„Es war die Hölle“, sagt Miron Peter Ley über seine Kindheit und Jugend bei den „Barmherzigen Schwestern“ im Kinderheim Leutkirch. „Jeden Tag Prügel, Misshandlungen, Demütigungen. Ich habe alles abgekriegt, das volle Programm.“ 1955 geboren, kam Ley als sechs Monate alter Säugling ins Heim – und blieb dort bis zum 18. Lebensjahr. Auch von sexuellen Übergriffen blieb er nicht verschont.

Missbrauch als "Prüfung Gottes" hinnehmen

„Es war der Hausgeistliche, ich war zwölf Jahre alt“, sagt Ley, „und als ich mich später einem anderen Geistlichen anvertraut habe, sagte der, ich solle das als ‚Prüfung Gottes‘ betrachten.“ Ley ist heute fast blind, Spätfolge einer nicht behandelten Diabeteserkrankung. „Stattdessen bekam ich Schläge und eingebläut, dass ich nichts wert bin, nichts kann und aus mir nichts wird“, sagt er. Gescheitert im Leben ist er dennoch nicht – „weil ich es allen beweisen wollte“, sagt Ley heute.

Staat und Gesellschaft schauten weg

Damit stellt er eher eine Ausnahme dar unter den Tausenden von Heimkindern, die auch in Baden-Württemberg in den 60er und 70er Jahren Opfer von gewalttätigen Erzieherinnen und Erziehern wurden und eines staatlichen Systems, das konsequent wegschaute. Welche ungeheuren Ausmaße das hatte, macht der Abschlussbericht der Beratungsstelle „Heimerziehung 1949 – 1975 Baden-Württemberg“ deutlich, der gestern bei einer Tagung mit zahlreichen Betroffenen in Stuttgart vorgestellt wurde. Federführung hatte der Kommunalverband Jugend und Soziales (KVJS).

Täglich brutale "Genitalinspektionen"

Sechs Jahre lang hat sich die 2012 beim KVJS eingerichtete Beratungsstelle mit den Vorgängen befasst, 2400 ehemalige Heimkinder meldeten sich. 1850 Männer und Frauen nutzen das Gesprächsangebot und berichteten zum Teil erstmals jemandem darüber, was sie als Kinder und Jugendliche hilflos erleiden mussten. 92 Prozent von ihnen erlebten selbst zum Teil schwere körperliche oder sexualisierte Gewalt. Sie berichten von Nahrungsentzug oder dem Zwang, Erbrochenes zu essen, von Demütigungen und Erniedrigungen wie täglichen Genitalinspektionen mit brutalen „Untersuchungsmethoden“, den sich pubertierende Jugendliche aussetzen mussten.

Viele Jungen waren Opfer von Täterinnen

„Weibliche Täterschaft war weit verbreitet, und Jungen wurden in viel größerem Ausmaß Opfer von sexualisierter Gewalt, als bisher angenommen“, sagt KVJS-Leiterin Kristin Schwarz. „Zum Teil waren bei den Gesprächen die Ehepartner dabei, die von all dem nichts wussten“, so Irmgard Fischer-Orthwein, die Leiterin der Beratungsstelle, die selbst unzählige Gespräche führte und von dem Ausmaß des Schreckens, der ihr offenbart wurde, tief erschüttert ist. „Vielen war es sogar wichtiger, endlich Gehör zu finden, als eine finanzielle Unterstützung.“

Leid mit Geld kaum zu lindern

In Baden-Württemberg erhielten 1846 ehemalige Heimkinder aus dem mittlerweile geschlossenen Bundesfonds „Heimerziehung“ finanzielle Unterstützung, pro Person bis zu 10000 Euro für Sachleistungen wie Möbel oder Wohnungsumbau, Therapien oder Rentenersatzleistungen. KVJS-Leiterin Kristin Schwarz geht davon aus, dass nur ein Bruchteil der Betroffenen sich überhaupt gemeldet hat. „Viele leben auch gar nicht mehr.“ Ohnehin lassen sich die Traumata vieler Betroffener mit Geld kaum lindern.

Sozialminister bittet um Entschuldigung

Manfred Lucha, Minister für Soziales und Integration in Baden-Württemberg.
Manfred Lucha, Minister für Soziales und Integration in Baden-Württemberg. | Bild: dpa

„Der Staat hat versagt“, bilanziert Sozialminister Manfred Lucha (Grüne), die die Ergebnisse der Studie „beschämend“ nennt und bei den Betroffenen für dieses Versagen um Entschuldigung bittet. „Wir können das Leid nicht ungeschehen machen, aber öffentlich anerkennen, was damals passiert ist, zuhören, die Missstände benennen und aufklären.“

"Täter lebenslang verfolgen"

Dass die Täter und Täterinnen von damals meist völlig ungeschoren davonkamen, ist für viele Betroffene noch heute schwer zu ertragen. „Wir fordern, dass diese Taten nicht verjähren und verfolgt werden“, fordert Ex-Heimkind Willi Dorn, der im Heimkinder-Beirat sitzt. „Sie sollen bis an ihr Lebensende fürchten müssen, verfolgt zu werden."

Den Löffel ins Gesicht geschlagen

Als er das sagt, nickt Akua Desta heftig. Sie nennt die Heimleiterin, der sie als Kind im antroposophischen Kinderheim Mecki im Bühlertal ausgesetzt war, offen „sadistisch“ und wünscht sich bis heute sehnlichst, dass öffentlich wird, welches Regime die Frau damals führte. Ihre erste Erinnerung an den ersten Morgen: Sie hielt beim Frühstück den Löffel falsch, der ihr samt Haferflocken ins Gesicht geschlagen wurde. Danach wurde sie als "Drecksau" zur Schau gestellt. Beginn eines zweijährigen Alptraums voller Strafen und emotionaler Grausamkeiten. Noch immer fängt die 53-Jährige, die nach Kindheit und Jugend in mehreren Heimen und Internaten nie in ein normales Erwerbsleben fand, zu frieren an, wenn sie äußerlich scheinbar ruhig über diese Zeit berichtet. Und bricht in Tränen aus, wenn jemand liebevoll mit ihr umgeht.