Als Angela Merkel vor zwölf Jahren das Internet als Neuland bezeichnete, war das Gelächter über die Kanzlerin groß. Inzwischen dürfte den meisten Spöttern dämmern, dass sie gar nicht so falsch lag.

Neu sind eben nicht nur die technischen Möglichkeiten, sondern auch die Form der Öffentlichkeit, in der potenziell jeder Botschaften in die Welt schicken kann, die sich in Windeseile verbreiten, geteilt, gelikt werden, oder gehasst. Und im Moment erleben wir erst die Anfänge der Künstlichen Intelligenz (KI), deren Folgen für Arbeitswelt und Demokratie sind noch längst nicht ausbuchstabiert.

Was Online-Kompetenz anlangt im Hintertreffen

Aber auch im Kleinen, in den Familien, sorgt die Welt der Smartphones, der Chats und der Influencer für viel Unsicherheit. Wie umgehen mit den Sprösslingen, die Tag und Nacht am Handy hängen, was verbieten, was zulassen, fragen sich die Eltern.

Hier Orientierung zu bieten, hat sich Andre Wolf vorgenommen. Beim VS-Forum „So werden unsere Kinder manipuliert“ am Donnerstagabend in Villingen-Schwenningen gab der Internet-Experte Einblicke und Tipps an Eltern und „alle anderen Erwachsenen“.

SÜDKURIER-Chefredakteur Stefan Lutz (l.) im Gespräch Andre Wolf.
SÜDKURIER-Chefredakteur Stefan Lutz (l.) im Gespräch Andre Wolf. | Bild: Hans-Jürgen Götz

Ebendiese Erwachsenen, die qua Alter und Erfahrung eigentlich Vorbild und Anleitung geben sollten, sind ja in Sachen „Neuland“ häufig im Hintertreffen gegenüber dem Nachwuchs, der ganz selbstverständlich nicht nur mit der Kulturtechnik des Wischens umgeht. An sie ist der Abend in der Neuen Tonhalle gewidmet.

Es sei nämlich überhaupt nicht schlimm, in diesem Themenfeld, das sich so rasant ändert, wenig Bescheid zu wissen, sagt SÜDKURIER-Chefredakteur Stefan Lutz eingangs: „Schlimm ist es, zu resignieren, den Kopf in den Sand zu stecken und zu sagen: Da kann man halt nichts machen.“

Panikmache als raffinierte Verkaufsmasche

Andre Wolf, Sprecher und Gesicht des österreichischen Vereins Mimikama, der sich der Aufklärung in Sachen Internet verschrieben hat, hat deshalb eine ganze Reihe von praktischen Beispielen parat, wie es so zugeht in den virtuellen Welten. Vor 600 aufmerksamen Gästen zeigt er, was eigentlich dahintersteckt, wenn Health- und Beauty-Influencer beispielsweise behaupten, Sonnencreme sei Gift.

Meist stecke ein wahrer Kern darin, tatsächlich stehen manche UV-Filter im Verdacht, wenn sie zu lange liegen, krebserregende Stoffe zu produzieren – so pauschal allerdings ist die Behauptung reine Panikmache. Die Motivation dahinter wird allerdings schnell klar: Der vermeintliche Heilsbringer verlinkt auf seine eigenen Produkte, die er online verkauft.

Gut besuchtes VS-Forum in der Neuen Tonhalle: 600 Gäste lauschen konzentriert den Ausführungen von Andre Wolf.
Gut besuchtes VS-Forum in der Neuen Tonhalle: 600 Gäste lauschen konzentriert den Ausführungen von Andre Wolf. | Bild: Hans-Jürgen Götz

Nicht alles, was Influencer, die „Popstars der jungen Leute heute“ (Wolf), so verkünden, entspricht der Wahrheit. Werbung wird häufig nicht kenntlich gemacht. So auch in dem Video, bei dem „Mr. Beast“ behauptet, er habe in Berlin einen ganzen Supermarkt ausgeräumt und die Waren an Bedürftige verschenkt. Dahinter steckte lediglich eine PR-Aktion. Oder die junge Dame, die Bilder mit viel nackter Haut von sich postet und nebenbei rechtsextreme Botschaften verbreitet. Larissa Wagner, wie sie sich nennt, ist allerdings KI-erzeugt.

Die Legende vom Lieferwagen

Das Hauptproblem daran: Viele Menschen durchschauen die Methoden nicht. Besonders Kinder und Jugendliche übernähmen Ängste und Botschaften, ohne diese zu reflektieren, so Wolf. Brandgefährlich wird es, wenn die erfundenen Geschichten auf politische Manipulation aus sind.

Wolf führt das Beispiel des weißen Lieferwagens an, der angeblich Kinder einsammle und nach Osteuropa verschleppe, wo ihre Organe entfernt würden. „Achtet auf ausländische Kennzeichen und Zigeuner“, steht ganz unten im Post, der sich uralter rassistischer Vorurteile bedient.

Drei Motive für Desinformation

„Solche Geschichten können uns beeinflussen, auch politisch“, sagt Wolf. Und sie wollen es oft auch. Drei Motive beobachtet er: Da seien diejenigen, die es gar nicht böse meinen, sie wollen andere warnen. Andere machen sich lustig – zum Beispiel, um Aufmerksamkeit zu erzeugen. Dass ein angebliches Flugzeugunglück nur als Satire zu verstehen sein soll, ist aber nur für Eingeweihte ersichtlich. Und dann sind da noch die Trolle, die es auf die politische Mitte abgesehen haben, für Verunsicherung und Destabilisierung abgesehen haben.

Ob die jüngst verbreitete Falschmeldung auch dazuzählt, die Deutschlands jüngster Abiturientin Lina Heider (11) einen afghanischen Fluchthintergrund nachsagte? Ein Berliner Influencer behauptete das und unterstellte Medien, diese Positivinformation zu unterschlagen. Das stellte sich später als völlig falsch heraus.

Hunderte Fälschungen von echten Zeitungs-Webseiten

In den Bereich der bewussten politischen Desinformation gehören jedenfalls die Doppelgänger-Kampagnen, die das Auswärtige Amt pro-russischen Trollen zuschreibt. Hunderte Fälschungen von echten Nachrichtenseiten wurden dabei online gestellt. Eine gefälschte Homepage der Frankfurter Allgemeinen Zeitung berichtete da zum Beispiel: „Renten der Deutschen werden in der Ukraine verbrennen“.

Die Zielrichtung ist klar: Verunsicherung der deutschen Öffentlichkeit, Verbreitung von Desinformationen, die darauf abzielen, die Unterstützung der Ukraine zu diskreditieren und nebenbei das Vertrauen in etablierte Medien zu untergraben.

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Wem kann man noch trauen?

„Es geht um Irritation. Man soll nicht mehr wissen, wem man trauen kann“, sagt Wolf, der auch Regierungen berät. Wolf spricht von hybrider Kriegsführung, die es schon immer gegeben habe. „Die schießt nicht mit Waffen, sondern mit Propaganda. Früher wurden Flugblätter abgeworfen, heute haben wir Social Media.“ Seiner Erfahrung nach wird es zunehmend einfacher zu irritieren. „Die Leute verlieren ihren Pol.“

Die Unsicherheit in einer Zeit, in der man beispielsweise aus den USA täglich mit einer neuen Überraschung von Donald Trump rechnen muss, macht uns angreifbar.

„Sie wissen es nicht besser“

Alles keineswegs nur Themen, die Kinder und Jugendliche betreffen. Diese aber haben besonderen Schutz nötig – sie brauchen Eltern und Lehrer, die sich mit den Themen befassen. SÜDKURIER-Chefredakteur Stefan Lutz berichtet im Bühnengespräch mit Wolf von seinen Erfahrungen mit der Schulpolitik, die Medienkompetenz lange nicht als notwendiges Bildungsziel ansah. „Sie wissen es nicht besser“, sagt Wolf über Politiker. „Sie sind nicht da, wo es passiert.“

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Gleichzeitig ist ihm wichtig, die Verantwortung nicht auf die Politik abzuwälzen. „Die Eltern sind in der Pflicht“, findet er. Er empfiehlt den Müttern und Vätern schon im frühen Alter Mediennutzungsverträge mit ihren Kindern zu schließen. „Ich als Elternteil habe das Recht, jederzeit reinzuschauen in die Apps meines Kindes. Es gibt keine Privatsphäre für 13-Jährige auf dem Handy.“ Auch, weil Eltern für ihre Kinder haften.

Keine Strafen, von Kindern lernen, Fake News nicht teilen – ein paar ganz konkrete Tipps des Social-Media-Experten:

Übrigens, von einem Social-Media-Verbot für unter 16-Jährige wie in Australien hält Wolf – nichts! Mit dieser Vogel-Strauß-Taktik werde nichts gewonnen. Im Gegenteil, dadurch würden Jugendliche nur noch unvorbereiteter auf die Welt der sozialen Medien losgelassen.