Eine Gemeinderatssitzung mit rund 350 Besuchern, dazu ein hochkarätig besetztes Rednerpodium, emotionale Bürgerfragen und mit Beifall bedachte Statements der Gemeinderatsfraktionen, die sich nur mit einem Thema beschäftigten: der Situation in der Landeserstaufnahmeeinrichtung (LEA). „Das ist das beherrschende Thema in Sigmaringen“, konstatierte Bürgermeister Marcus Ehm. Die Zahl der untergebrachten Flüchtlinge stehe in keinem Verhältnis zur Größe der Stadt, erinnerte er an den 2017 geschlossenen Vertrag mit dem Land, in dem eine Regelbelegung von 875 Personen vereinbart worden war. Aktuell seien 1500 Flüchtlinge in der LEA, darunter 400 minderjährige Kinder.

Justizministerin: „Wir können auf die Lea Sigmaringen nicht verzichten.“

„Ich nehme ihre Sorgen ernst und bin mir der besonderen Last sehr bewusst“, begann die für Migrationspolitik zuständige Justizministerin Marion Gentges ihr Eingangsstatement. „Wir laufen Gefahr, die Menschen im Land zu verlieren“, konstatierte Gentges unter dem Beifall der Besucher, machte angesichts von 350 Flüchtlingen, die Baden-Württemberg täglich aufnehmen und unterbringen muss, auch sehr klar, dass man auf die LEA in Sigmaringen nicht verzichten könne. Das Land bemühe sich, eine Aufnahmekapazität von 15.000 Plätzen zu schaffen, aber die Standortsuche sei sehr schwierig. 30 Kommunen erhielten von Gentges eine Anfrage, und nur eine Gemeinde antwortete, aber sie werde hartnäckig bleiben, versprach die Ministerin. Für das Abebben des Migrationsstroms nach Deutschland wäre ein Kompromiss innerhalb der EU bezüglich der Verteilung von Flüchtlingen ein erster Schritt. Gentges befürwortet die Umstellung von Geld- auf Sachleistungen und bei den geforderten Bezahlkarten gebe es Gespräche mit Kartenanbietern. „Ich bitte sie um viel und werbe um ihr Verständnis“, wandte sich die Ministerin direkt an das Auditorium und die Besucher quittierten ihren Appell mit Beifall.

Anwohner schildern ihre Erfahrungen mit Flüchtlingen

Aufmerksam hörte sie zu, als Bürger, vornehmlich aus den an die LEA angrenzenden Wohngebieten, ihre Erfahrungen mit Flüchtlingen schilderten. Ein Vater von fünf Kindern berichtete, dass sich auf dem Spielplatz des Öfteren Flüchtlinge aufhielten, deren Verhalten harmlos sei, aber deren schiere Präsenz bei Eltern und auch Kindern Ängste auslösten. Aus Angst vor Straftaten habe die Familie in diesem Sommer nicht mit offenem Fenster geschlafen. „Menschen früher in Arbeit bringen und Straftäter schnell abschieben“, forderte ein Zuhörer und die Ministerin pflichtete ihm bei: „Wer schwere Straftaten begeht, sollte abgeschoben werden.“

Souverän leitete Bürgermeister Marcus Ehm die schwierige Ratssitzung und Justizministerin Marion Gentges hörte aufmerksam zu, was Räte ...
Souverän leitete Bürgermeister Marcus Ehm die schwierige Ratssitzung und Justizministerin Marion Gentges hörte aufmerksam zu, was Räte und Bürgerschaft zu sagen hatten. | Bild: Volk, Siegfried

Schulgebäude wird später nicht für Flüchtlingsunterbringung genutzt

Mit einem klaren „Nein“ entkräftete Landrätin Stefanie Bürkle das Gerücht, wonach nach Fertigstellung der neuen Bertha-Benz-Schule das alte Gebäude als Flüchtlingsunterkunft genutzt werden soll. Schier als Exot fühlt sich ein Mann im Ziegelesch, denn er habe keine Kamera am Haus installiert, wobei diese Überwachung ein seltsames Gefühl erzeuge. „Junge Männer richten großen Schaden an“, so forderte auch er, dass die LEA-Belegung ausgewogener und mehr Familien in Sigmaringen untergebracht werden sollten. Julia Dangelmaier berichtete von Zwischenfällen mit ihren Kindern und deshalb habe die Familie sich entschlossen, in Sigmaringen kein Haus zu kaufen. Viel Beifall erhielt Anika Schäfer, als sie den Verlust von Sicherheit im Lebensalltag anprangerte. Sie forderte ein verpflichtendes Tagesprogramm für die LEA-Bewohner, und eine Nichtteilnahme sollte beispielsweise durch eine Ausgangssperre sanktioniert werden. Zwei Afrikaner machten deutlich, dass die Menschen vor Krieg, Hunger und Katastrophen aus ihrer Heimat flüchteten: „Wir sprechen über Menschen.“

Vertreter der Gemeinderatsfraktionen geben Statements ab

Trotz der Emotionalität der Beiträge gab es von vielen Bürgern Lob für den Einsatz der Polizei, die mit zehn Beamten in der eigens eingerichteten Polizeiwache in der LEA präsent ist und nach Angaben von Uwe Stürmer, Präsident des Polizeipräsidiums Ravensburg, eine Aufklärungsquote von 80 Prozent bei Straftaten erzielt. In diesem Jahr habe man schon 28 Haftbefehle vollstreckt. Man sehe auch die Bemühungen von Ministerin Gentges, die Situation in Sigmaringen zu entschärfen, wie auch die Sprecher der Rathausfraktionen konstatierten, die zu Beginn Statements abgaben. „Nach acht Jahren sind viele müde und die Stimmung ist schlechter denn je“, erklärte CDU-Vertreterin Alexandra Hellstern-Missel. Das Maß an Offenheit sei ausgereizt und es brauche für Sigmaringen eine „Exit-Strategie“ und kurzfristig eine Reduzierung der Belegungszahlen auf unter 1000. Dieser Aussage schloss sich Melanie Hirlinger, Sprecherin der Freien Wähler, an. Für Bündnis90/Die Grünen lobte Gerhard Stumpp die „professionelle Arbeit“, die in der LEA geleistet werde und regte an, dort ein Ladengeschäft einzurichten.

Bürgermeister Ehm nennt konkrete Forderungen

Bürgermeister Marcus Ehm sieht Sigmaringen mit seiner Infrastruktur und einer Kernbevölkerung von 13.000 Bewohnern angesichts von 1500 Flüchtlingen in der LEA, absolut überfordert und fordert, kurzfristig eine Höchstbelegung festzulegen. Vertraglich hatten sich Stadt und Land im Jahr 2017 auf eine Regelbelegung von 875 Personen geeinigt, wobei Ausnahmen gestattet sind.

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Die Zuweisungspraxis müsse so geändert werden, dass weniger junge Männer nach Sigmaringen kommen. Aus den Erfahrungen der vergangenen Jahre wisse man, welche Problemfälle es gebe und diese sollten in großen LEAs in Großstädten untergebracht werden. Baden-Württemberg muss nach Angaben von Justizministerin Marion Genges entsprechend seiner Einwohnerzahl und Steuerkraft 13 Prozent aller Flüchtlinge in Deutschland aufnehmen. Inklusive der Geflüchteten aus der Ukraine rechnet sie in diesem Jahr mit 60.000 Personen. (siv)

Weitere Stelle für Streetworker wird eingerichtet

Auf die Forderung von SPD-Sprecher Martin Huthmacher, mehr Streetworker einzusetzen, die auch abends und nachts unterwegs sind, erwiderte Ministerin Gentges, dass eine zusätzliche Stelle geschaffen werde. Angesichts des Fachkräftemangels sei es allerdings schwierig, diese zu besetzen, ergänzte Rathauschef Ehm. Souverän moderierte der Bürgermeister die Sitzung, wobei er energisch einschritt, als ein Redner sich ausländerfeindlich gerierte und ein Reichsbürger am Mikrofon sichtlich verwirrt-verquer agierte. Nach rund drei Stunden beendete Ehm die Sitzung, und im Anschluss bildeten sich noch viele kleine Runden, denn der Gesprächsbedarf ist da.