Lockdown, Heimunterricht, Medienkonsum – die Corona-Pandemie war und ist vor allem für Kinder und Jugendliche eine Zeit, in der bewährte Strukturen im Alltag mehr denn je weggebrochen sind. Das hat sich auf die Psyche und somit das Verhalten junger Menschen ausgewirkt, wie Experten im Gespräch mit dem SÜDKURIER bestätigen.

Wie erleben Kinder und Jugendliche die Pandemie?

„In Deutschland gibt es eine Studie, die zum Teil auch die Psyche von Kindern und Jugendlichen untersucht. Es gab eine Erhebung vor Corona und währenddessen“, sagt Norbert Grulke, ärztlicher Direktor der Bad Dürrheimer Luisenklinik, in der auch junge Menschen stationär behandelt werden. Ein Resultat sei eindeutig: „Insgesamt geben die Kinder und Jugendlichen eine geminderte Lebensqualität an. Durchschnittlich deutlich schlechter.“

Obwohl Kinder seltener von schweren Covid-Krankheitsverläufen betroffen sind, gebe es häufig die Sorge über schwere Verläufe im Bezug auf die Eltern und Großeltern. Aber auch familiäre Einschränkungen, wie das Verbot Oma und Opa besuchen zu dürfen, seien Gründe für die geminderte Lebensqualität.

Grulke: „Außerdem fehlen die sozialen Ressourcen, wie das Besuchen der Schule oder des Sportvereins. Und auch Geburtstage oder das Treffen mit Freunden fallen weg.“ Zusammengefasst: Während der Druck durch Corona größer wird, fehlen die Ausgleichsmöglichkeiten.

Und diese Dissonanz führe vermehrt zu psychosomatischen Symptomen: „Wenn man die Kinder befragt, geben sie verstärkt Kopfschmerzen, Bauchweh, eine höhere Reizbarkeit, aber auch schlechteren Schlaf an.“ Hinzu kämen bei der Selbstauskunft der Kinder eine höhere Ängstlichkeit und stärkere Depressionen.

„Was nicht abgefragt wurde, was wir aber bei uns in der Klinik beobachten ist, dass wir zwischenzeitlich schwere bis schwerste Anorexien haben. Auch Zwangsstörungen haben zugenommen. Insgesamt sind auch die Notaufnahmen mehr geworden“, sagt Grulke. Suizide seien aber „Gott sei Dank“ etwas sehr Seltenes.

Auf welche Warnsignale sollten Eltern achten?

Bevor sich die Pandemie schlimmer auf die Psyche der jungen Menschen auswirkt, können Eltern, Großeltern oder Lehrer auf bestimmte Warnsignale achten: „Mädchen ziehen sich eher zurück, Jungs reagieren eher mit Aggression. Generell gilt: Wenn Eltern feststellen, dass sich die Kinder ändern, sollten sie mit ihnen ins Gespräch kommen. Zuhören, Reden, Ernst nehmen. Nicht Dramatisieren, aber auch nicht Bagatellisieren.

Welche Kinder sind besonders gefährdet?

Von psychischen Probleme während der Pandemie betroffen sind aber nicht alle Kinder gleichermaßen. Ein entscheidender Faktor sind laut Grulke die sozialen Verhältnisse: „Familien, die stabil sind und gut funktionieren, ist für die Kinder eine riesige Ressource. Ich gehe davon aus, dass Kinder aus solchen Familien relativ unbeschadet durch die Covid-Krise gehen werden.“

Problematisch seien Familien, in denen es ohnehin viel Streit und Konflikte gibt. Aber auch arme Familien mit wenig Ressourcen seien gefährdeter. Grulke: „Es gibt Erhebungen, die zeigen, dass ein beengter Wohnraum ein Risikofaktor war.“

Für die Luisenklinik arbeiten 405 Menschen, zirka 335 in Bad Dürrheim. Dort befinden sich unter anderem die Kinder- und ...
Für die Luisenklinik arbeiten 405 Menschen, zirka 335 in Bad Dürrheim. Dort befinden sich unter anderem die Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie mit 48 vollstationären Plätzen und 15 in der Tagesklinik und der Ambulanz. Die Klinik hat weitere Standorte in Radolfzell und Stuttgart. | Bild: Matthias Jundt

Folgen werde auch das Homeschooling haben. Das habe von den Eltern viel Arbeit abverlangt, die häufig nicht geleistet werden konnte – aus zeitlichen, aber auch sprachlichen Gründen. Grulke: „Ich glaube, dass diese Kinder perspektivisch zum größeren Problem werden können. Das fällt derzeit vielleicht noch nicht so sehr auf. Aber ob diese Kinder den Bildungsrückstand noch mal aufholen, das frage ich mich.“

Beim Home Schooling werde nur 50 bis 60 Prozent des Schulstoffs vermittelt im Vergleich zum Unterricht vor Ort. Grulke geht davon aus, dass durch das Homeschooling etwa ein Jahr an Schule verloren gegangen ist. Und das könne bei einigen Kindern Folgen für das restliche Leben haben.

Wann müssen Kinder in die Klinik?

„Kinder kommen häufig her, wenn die Eltern das Gefühl haben, mit der Situation nicht mir zurecht zu kommen“, sagt Grulke. Auch hier seien es eher bildungsnahe Familien, die sich im psychotherapeutischen Bereich nach Hilfe umschauen. Die Gefährdung für psychische Erkrankungen sei in der unteren sozialen Schicht fast doppelt so hoch im Vergleich zu oberen sozialen Schicht.

Wichtig: „Eltern sind nicht immer schuld. Aber nicht selten haben Kinder eine familiäre Geschichte. Viele Eltern hatten ähnliche Erfahrungen wie ihre Kinder. Als Beispiel: Eltern, die in der Kindheit geschlagen wurden, schlagen ihre eigenen Kinder tendenziell auch“, sagt der ärztliche Leiter.

Wie wird in der Luisenklinik geholfen?

Die Behandlung von Kindern und Jugendlichen in der Luisenklinik ist inhaltlich sehr individuell, von der Struktur her aber ähnlich. Grulke: „Das Kernelement ist die psychotherapeutische Behandlung in Einzel- und Gruppengesprächen. Was besprochen wird, ist sehr individuell. Dazu kommen ergänzende Angebote wie Kunst- oder Ergotherapien, aber auch Musiktherapien oder Sportangebote.“ Bei den Gesprächen werde zumeist auch die Familie mit einbezogen.

Was bleibt nach Corona?

„Ich glaube nicht, dass die Pandemie als klassisches Trauma bleiben wird“, sagt Grulke. In der jüngsten Befragung habe es schon Tendenzen der Verbesserung gegeben. Der Mediziner geht davon aus, dass Kinder mit genügend Ressourcen folgenlos aus der Pandemie hervorgehen werden.

Für alle anderen Kinder brauche es gezielte, niederschwellige Angebote: Deutlich mehr Kapazitäten für die Schulsozialarbeit und auch mehr Angebote für Kinder sich zu bewegen. Ganz grundsätzlich benötigen Kinder laut Grulke immer eine verlässliche Bezugsperson, um Ereignisse, wie sie auch die Pandemie mit sich gebracht haben, gut zu verarbeiten.

Wer Suizidgedanken hat, sollte sich Hilfe suchen. Eine erste Anlaufstelle ist die Telefonseelsorge, die anonym und kostenlos rund um die Uhr erreichbar ist. Nummer: 0800/1110111 oder 0800/1110222.