Jetzt, genau jetzt, hätte Udo Berger abbiegen müssen. In Wolterdingen über die Bregbrücke. „Biegen Sie links ab“, tönt die Stimme seines Navis schon zum zweiten Mal.
Udo Berger schüttelt den Kopf. „Mit einem 40 Tonner-Lkw roll ich nicht über eine Brücke, die nur 30 Tonnen hält. Das ist verrückt.“ Da kann ihn das Navi so oft es will in diese Richtung lotsen. Er fährt weiter, steht an einer Ampel, trommelt auf das Lenkrad und blickt geradeaus. „Es muss noch eine andere Zufahrt geben.“
Es muss, sagt er. Denn: Der Lkw-Fahrer hat an diesem Morgen 25 Tonnen Stahl geladen, den er an zwei Betriebe liefern soll. Einer davon liegt in Wolterdingen, der andere in Trossingen.

Berger ist einer von 400 Fahrern, die täglich für die Spedition Bächle Logistics unterwegs sind – und einer von etwa 480.000 Fahrern deutlichlandweit, die das Statistische Bundesamt 2021 in diesem Beruf zählte.
Doch die gewaltige Zahl täuscht: Mehr als ein Drittel aller Fahrer sind 55 Jahre und älter – Berger ist 56.
Ein drohender Versorgungskollaps?
Weil jedes Jahr Tausende Fahrer in den Ruhestand gehen, aber kaum Einsteiger nachkommen, drohe in zwei bis drei Jahren ein Versorgungskollaps, warnt der Bundesverband für Güterkraftverkehr und Entsorgung. Auch Berger weiß das. „Den Job will kaum noch jemand machen. Man hat ja auch kaum Privatleben“, sagt er.
Dabei ist gerade dieser so wichtig für das Funktionieren der Wirtschaft. Fahren Berger und seine Kollegen nicht, gibt es in den Supermärkten nur noch leere Regale, fahren Berger und seine Kollegen nicht, stehen die Bänder in den Fabriken still. Dann geht den Tankstellen das Benzin aus – so wie es England vergangenen Herbst erging.
Unterwegs mit 60 Kilometer pro Stunde
Berger hat eine andere Zufahrt gefunden, biegt nun wirklich ab, da quetscht sich ein Wohnwagen zwischen ihn und einen anderen Lastwagen. Bloß nicht ärgern, scheint sich Berger zu denken. „Hat das jetzt sein müssen?“
Auch eine halbe Stunde später, nach dem Abladen des Stahls, als Berger über die B27 bei Donaueschingen fährt, scheint ein Autofahrer ihn wütend zu überholen.

Dass Lastwagenfahrer keinen guten Ruf haben, weiß der 56-Jährige. Müll an den Raststätten, Staus – wegen zu langsamen Lkws. Er kennt die Vorurteile. Doch: „Vielen ist gar nicht bewusst, dass wir nicht schneller fahren dürfen.“
Obwohl die B27 wie eine Autobahn ausgebaut ist, darf Berger hier nur 60 Kilometer pro Stunde fahren. So besagt es die Straßenverkehrsordnung.
Fehlender Respekt
„In Deutschland fehlt oft der Respekt auf der Straße.“ Warum also tut er sich diesen Job an? „Klingt schrecklich, oder? Aber ich liebe es, unterwegs zu sein. Mein Mann sagt immer, ich sei ständig irgendwo: Heute hier. Morgen da.“
Dabei ist Berger eigentlich gelernter Koch. Wäre es wohl auch geblieben, wäre er nicht in der DDR zum Militär gekommen und hätte er da nicht große Fahrzeuge gefahren. „Da habe ich Blut geleckt.“
Eine Flucht aus der DDR an den Bodensee
Und: Wäre er nicht im Kofferraum seiner Verwandten über die Grenze geflohen, um am Bodensee bei ihnen ein neues Leben anzufangen. Und zu diesem neuen Leben gehörte auch ein neuer Job. Nicht mehr Koch, sondern Lkw-Fahrer.
Ein letzter Ampelhalt dann hat Berger die erste Firma zum Ausladen erreicht. Er geht vom Gas, wartet auf Grün. Und sagt: „Ein sauberer Lkw ist wichtig, ich repräsentiere ja Bächle.“ Oder: „Das ist mein Baby, der muss schön aussehen.“ Und tatsächlich ist der Lastwagen außen wie innen picobello.
Nur wenige persönliche Gegenstände erinnern daran, dass Berger hier werktags – weil er fast ausschließlich im Fernverkehr unterwegs ist – auch lebt und schläft.
Ein paar Kuscheltiere liegen vor der Scheibe, eine Kaffeemaschine thront im Fahrerbereich. Ein Kühlschrank steht dahinter, ein kleines Duftspray unter dem Armaturenbrett. Eine Mikrowelle und ein Fernseher sind hinter Schranktüren versteckt.
Die Ampel springt auf Grün und Berger tritt aufs Gas. Lenkt in die Einfahrt der Firma, hält an, klettert rasch die Stufen aus seiner Kabine herab. Auch später, beim Abladen des Stahls, springt er auf seinem Lkw permanent auf- und ab.
Man sieht, wie fit er ist. Muss er auch sein bei all der kraftvollen Arbeit – und man glaubt ihm sofort, wenn er sagt: Er jogge jeden Abend. Acht bis zehn Kilometer.
„Das muss sein“, sagt er. „Zum Ausgleich.“ Und doch wirkt er wie ein Arbeitstier, als er die Plane des Lkws und die Spann- und Sicherheitsgurte löst und den Gabelstapelfahrer einweist.
Oder als Berger erzählt, dass er in seinem Leben noch keinen einzigen Tag arbeitslos war. Dass er immer geschafft hat. Als Lkw-Fahrer für drei Speditionen.
Die erste ging pleite. Bei der zweiten transportierte er schwere Brückenteile durch halb Europa, manchmal bis nach Weißrussland – und zog sich irgendwann einen Wirbelsäulenriss zu. Er musste kürzertreten und wechselte zur dritten, zur Spedition Bächle aus VS. Für die fährt er montags bis freitags Lebensmittel, Tiernahrung oder etwa Stahl quer durch Deutschland.
Warum Berger nebenbei an der Tankstelle schafft?
Berger lehnt sich an seinen Lkw, um frische Luft zu schnappen. Auch wenn es kalt und regnerisch ist. „Und am Wochenende schaffe ich nebenher an einer Tankstelle in Schwenningen“, sagt er.
„Aber das mache ich bloß, um Zeit mit meinen Mann zu haben. Sonst würden wir uns nie sehen.“ Sein Mann arbeitet am Wochenende an jener Tankstelle.
Die Schichtzeit rennt und rennt – zwei Mal pro Woche darf Berger 15 Stunden arbeiten und zehn davon fahren, die anderen Tage 13 Stunden arbeiten und neun hinter dem Lenkrad verbringen – also steigt der 56-Jährige wieder ein. Lädt die zweite Ladung ab und bekommt über sein Tablet eine Meldung für eine neue Ladung zum Mitnehmen.
Die engen Zeitfenster der Supermarkt-Riesen
Ein paar leere Kisten soll er in Rottweil abholen. „Das geht noch“, sagt Berger. Schlimmer seien Aufträge von großen Supermarktketten: „Da bekommt du ein Zeitfenster, wann du da sein musst.“
Und das sei gerade bei Distanzen von 400 oder 500 Kilometern – mit Staus, Baustellen oder Wartezeiten beim Be- und Entladen kaum einzuhalten. „Es gibt Ladestellen, wo wir zwei, drei, im schlimmsten Fall acht Stunden warten müssen.“
Ein Lkw-Fahrer muss geduldig sein. Berger fährt deshalb lieber in der Nacht. Wenn die Straßen leerer sind.
Draußen fängt es an, zu nieseln. Berger schaut aus dem Fenster auf ein verwelktes Sonnenblumenfeld und spricht von der heftigsten Nacht seines Lebens. Damals, vor drei Jahren, als er einen Brückenträger mit 80 Tonnen transportierte und der Sitz unter ihm plötzlich ganz warm wurde.
Feuer unter dem Sitz
„Ich habe mich noch gewundert und dann schon das Feuer gesehen.“ Später erfährt Berger: Die Hauptplatine, also die Steuerung seines Lkws sei durchgebrannt.
In Sekundenschnelle habe er es noch geschafft, in eine Baustelleneinfahrt zu steuern, zu stoppen und aus dem Wagen zu springen. „Das Schlimmste waren die Stunden danach. Da stehst du vor einem ausgebrannten Lkw und keiner ist bei dir“, sagt Berger, düst mit seinem Transport an einer Tankstelle vorbei und schüttelt den Kopf.
„Darf ich ehrlich sein?“
„Diese Spritpreise sind eine riesen Sauerei“, sagt er. „Wir sind die, die jeden Tag, auf der Straße ihr Leben riskieren, dass die Ware zum Kunden kommt. Und werden dafür mit solchen Preisen auch noch bestraft.“
Die Unsichtbaren: Unsere Serie
Kassierer, Putzkräfte, Müllwerker, Techniker, Lastwagenfahrer: Viele Menschen, die unsere Infrastruktur am Laufen halten oder dafür sorgen, dass unser Leben schöner, einfacher wird, werden im Alltag kaum beachtet. Mit dieser Serie wollen wir ihre Arbeit sichtbar machen. Sie haben einen dieser Jobs? Oder kennen jemanden, dessen Arbeit wertvoll, aber viel zu unsichtbar ist? Dann schreiben Sie mir an daniela.biehl@suedkurier.de
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