Die Temperatur in der Villinger Innenstadt liegt an diesem Morgen knapp unter Null. Vom Himmel fällt irgendetwas zwischen Schnee und Regen. Zugig, eklig, einfach Brrrrr-Wetter.

„Ist Ihnen kalt?“, fragt Oliver Schmidt. „Mir ist jetzt fast warm, eigentlich angenehm“, schiebt er nach. Oliver Schmidt und die Kälte – sie sind zwei, die sich sehr gut kennen. Sein Schlafzimmer, sein Wohnzimmer, sein Zuhause sind irgendwo dort draußen in der bitterkalten Natur. Der 45-Jährige ist wohnungslos.

Falscher Name, echte Sorge

Oliver Schmidt heißt im wahren Leben eigentlich ganz anders. Doch im wahren Leben, da sind die Reaktionen auf seine Wohnungslosigkeit oft nicht sehr freundlich. Weil er nicht will, dass irgendwann ein potentieller Arbeitgeber, ein möglicher Vermieter, ein Bankmitarbeiter im Internet auf seinen Namen und sein Schicksal stößt, ist er in dieser Geschichte Oliver Schmidt. Oliver lautet sein zweiter Vorname.

Das Schicksal unter der warmen Jacke

Dass Schmidt auf der Straße lebt, vermutet auf den ersten Blick keiner. Auch auf den zweiten nicht. Ein Trekking-Biker vielleicht? Sein Rad ist bepackt mit drei großen, glänzendschwarzen und wasserdichten Taschen. Dass sie seinen gesamten Besitz enthalten, weiß niemand. Gepflegter Bart, Schirmmütze, eine saubere dunkelgraue Outdoorjacke. Die hält sicher warm, denkt man noch unwillkürlich. Dass dies für Oliver Schmidt lebenswichtig ist – auch das sieht keiner.

Viele sehen nicht mehr nach Straße aus

Doch Schmidt ist kein Einzelfall. „Vielen unserer Kunden sieht man es heutzutage nicht mehr von weitem an, dass sie auf der Straße leben“, berichtet Ralf Großmann, Leiter der Wohnungsnotfallhilfe bei der Arbeiterwohlfahrt (AWO). Hier habe sich viel verändert, weiß er.

Ralf Großmann, Leiter der Wohnungsnotfallhilfe
Ralf Großmann, Leiter der Wohnungsnotfallhilfe | Bild: Stadt Villingen-Schwenningen

Großmann kennt sich aus, die Wohnungslosen der Region gehen bei ihm in der Fachberatung täglich ein und aus. Ein paar Zahlen? 550 direkte Kontakte hatte die Anlaufstelle im Jahr 2022. 300 telefonische Anfragen. 2300 Tagessätze à 16,73 Euro wurden ausgezahlt. Und es werden mehr. Doch zu den Gründen dafür später.

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Oliver Schmidt, 45 Jahre alt, ist einer, der sich auszudrücken weiß und der sich auskennt, was so geht in der Welt. Dass er überhaupt in einer Lage landen würde, in der er weder Arbeit noch Wohnung hat, wäre einst kaum vorstellbar gewesen. Gleich zwei Ausbildungen hat der gebürtige Hamelner abgeschlossen – eine als Hochbaufacharbeiter, die zweite als Verpackungsmitteltechnologe.

Einst eine glänzende Karriere

In diesem Beruf macht Oliver Schmidt Karriere. Bei der Schweizer Stralfors AG wird er zum Chef der Konstruktions- und Entwicklungsabteilung, ist quasi dritter Mann im Unternehmen, sein Monatsgehalt fünfstellig. „Ich habe 250 bis 300 Stunden im Monat gearbeitet“, erinnert er sich. Doch als der Geschäftsführer in ein Tochterunternehmen wechselt, muss auch Schmidt gehen.

Heinz Rühmann lockt ihn in den Schwarzwald

Der Anfang vom Ende. Der 45-Jährige leidet an Burnout, entwickelt Depressionen. Zunächst schläft er bei Bekannten auf der Couch, später bei anderen Freunden in einer Einliegerwohnung.

60 Tage verbringt er sogar im Gefängnis, weil er eine Geldstrafe nicht bezahlen will. Hier findet sich auch der Grund, warum er heute im Schwarzwald lebt. In seiner Zelle stand damals ein Fernseher. „Und in einem Film mit Heinz Rühmann waren Bilder aus der Gegend zu sehen“, erinnert sich Schmidt.

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Warum er lieber herumtingelt

Kaum wieder draußen, läuft er los. Am 3. Januar 2013 kommt er im Landkreis Schwarzwald-Baar an. „Seitdem rotiere ich hier zu Fuß“, sagt er. Eine kurze Zeit lang hat er ein kleines Zimmer über die Arbeiterwohlfahrt in Tuttlingen, „aber da war ständig Theater im Haus, eingetretene Türen und so“.

Ja, da sei er lieber weiter herumgetingelt. Immer in Bewegung. „Ich bin hier in der Region bestimmt schon 50.000 Kilometer gelaufen“, erzählt er. Doch das, so sagt er, sei viel besser, als „bei den Anlaufstellen rumzuhocken oder mit einem Bier in der Stadt“.

„Lieber erfriere ich“

Einen festen Schlafplatz hat Oliver Schmidt nicht. Er kennt alle noch so kleinen Waldwege, alle Schutzhütten in der Umgebung. In einer von ihnen schlägt er Nacht für Nacht sein Lager auf. Sommers wie winters. Nur Siebenschläfer oder Krähen leisten ihm hier Gesellschaft, mit ihnen teilt dann auch gerne mal sein Brötchen oder ein Stück Mettwurst.

In einem Eingang schlafen oder bei ganz bitteren Temperaturen in der städtischen Unterkunft für Wohnungslose? „Lieber erfriere ich“, stellt Schmidt klar.

Manchmal bekommt Oliver Schmidt an seinen Schlafplätzen tierische Gesellschaft. Hier ein Siebenschläfer, der ihm in einer Schutzhütte ...
Manchmal bekommt Oliver Schmidt an seinen Schlafplätzen tierische Gesellschaft. Hier ein Siebenschläfer, der ihm in einer Schutzhütte begegnet ist. | Bild: Oliver Schmidt

Von einem kleinen Erbe seines Vaters hat er sich einen richtigen Winterschlafsack gekauft. Der soll auch bei zweistelligen Minusgraden noch schön warm halten. Der jüngste Wintereinbruch, so gibt er jedoch zu, der war schon ganz schön schwer. Minus 13 Grad hatte es an einem Morgen.

„Da hatte ich schon leichte Erfrierungen am Handrücken.“ Auch der Campingkocher funktionierte nicht mehr. Dennoch sei trockene Kälte viel besser zu ertragen als Nässe, weiß Schmidt. „Das zieht nämlich richtig übel in die Knochen.“

Bezahlbare Wohnungen? Fehlanzeige

Irgendwann einmal nicht mehr frieren, wieder in einer eigenen kleinen Wohnung leben – für Menschen wie Oliver Schmidt bleibt dieser Traum heutzutage immer öfter unerfüllbar. „Das ist aktuell sehr, sehr selten“, weiß Experte Ralf Großmann. Bezahlbaren Wohnraum gebe es auch in der Region immer weniger.

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Eine Folge: Immer öfter melden sich jetzt Menschen bei ihm, die früher sich nie an die Fachberatung gewandt hätten. „Die haben ein Einkommen, müssen aber aus ihrer Wohnung raus und finden nichts Neues“, so Großmann. Wer keine Arbeitsstelle hat, hat erst gar keine Chance.

Gefangen im Teufelskreis

Keine Arbeit, keine Wohnung. Keine Wohnung, keine Arbeit. Diesen Teufelskreis erlebt auch Oliver Schmidt wieder und wieder. Bei der Bahn hat er sich beispielsweise beworben. Bei einer Bergbahn im Allgäu. Wenn er erklärt, dass er keinen festen Wohnsitz hat, kommt jedoch meist die gleiche Reaktion: „Das wird eh nichts.“

Womit wir bei einem Weihnachtswunsch von Oliver Schmidt angekommen sind: Ein Arbeitgeber, der sich davon nicht abschrecken lässt. Der ihm Zeit gibt, langsam wieder ins Arbeitsleben hineinzukommen. Und dann, ja dann könnte sich vielleicht auch der zweite Wunsch erfüllen. Der nach einem kleinen, aber eigenen und vor allem warmen Zuhause.