Nun ist die Katze also aus dem Sack: Die Schweiz will ihr Endlager für hoch radioaktiven Abfall fast direkt an der deutschen Grenze errichten. Was im Sprachgebrauch der Nachbarn „Nördlich Lägern“ heißt, darf man auf unserer Seite des Hochrheins getrost als „südlich von Hohentengen“ oder einfach als „ganz in der Nähe von Waldshut-Tiengen“ bezeichnen.
Gorleben – das kennt jeder. Nördlich Lägern – das lernen wir erst kennen.
Während auch in Südbaden wohl mehr Menschen den Ortsnamen Gorleben kennen und die Konflikte der Endlagerung von Strahlenmüll daran festmachen, ist spätestens seit Samstag klar: Unser Gorleben heißt Nördlich Lägern.
Wie es zu dieser – offiziell – Vorentscheidung kam und was sie für die Menschen am Hochrhein, im Schwarzwald und am Bodensee bedeutet, ist ein Lehrstück. Atompolitik ist kompliziert, und wie unter einem Brennglas sind in den Schweizer Entwicklungen viele Energielinien auch diesseits der Grenze gebündelt. Denn es geht, unter anderem, um das nachbarschaftliche Verhältnis, um die Frage nach einem deutschen Endlager und um die Zukunft der Atomenergie überhaupt.
Kommunikation auf Schweizer Art: Die Nachbarn sind ausgebootet
Dass die zuständige Schweizer Gesellschaft Nagra ihren eigenen Kommunikationsplan über den Haufen geworfen und das Ergebnis der Standortsuche schon am Samstag bekanntgegeben hat, ist mehr als eine Brüskierung der deutschen Nachbarn. Sie hatten sich auf Schweizer Zuverlässigkeit verlassen. Nun stehen die Akteure am Hochrhein da wie bestellt und nicht abgeholt. Wenn es je den Wunsch gab, grenzüberschreitend Vertrauen zu schaffen, dann ist dieses jetzt zerstört.
Was soll man den fluglärmgeplagten Hohentengenern noch sagen?
Gerade in Hohentengen und den Nachbarorten, wo die Menschen schon enorm unter dem Zürcher Fluglärm leiden, wird man auch den eigenen Politikern nicht mehr viel Gehör schenken, nachdem die Schweizer die deutschen Interessenvertreter zu Randfiguren deklassiert, nein: regelrecht vom Spielfeld gestellt haben. Wenn das der Plan war, ist er mehr als unappetitlich.
Auch wenn es niemand zugibt: Nun geht es auch um den Hegau als Endlager-Standort
Hinzu kommen berechtigte Ängste weit über die direkte Nachbarschaft des künftigen Endlagers hinaus. Die Geologie kennt keine Landesgrenzen. Die Schweiz, der hohe Sicherheitsstandards zugeschrieben werden, hält die Formationen unter dem Aargau für geeignet. Warum also sollen die gleichen Gesteine unter deutscher Erdoberfläche nicht auch sicher sein? Formal gilt in Deutschland weiter das Verfahren der weißen Landkarte. Mit dem Samstag ist es aber wahrscheinlicher geworden, dass Südbaden eine zweite atomare Müllkippe bekommt. Die eine ein paar Kilometer südlich, die andere eben etwas nördlich der Grenze.
Wer den Wiedereinstieg in die Atomkraft will, darf nicht gegen eine atomare Müllkippe sein
Auch in Südbaden werden die Stimmen lauter, die die Nutzung von Atomstrom über den Streckbetrieb hinaus verlangen. Wer so argumentiert, kann kaum Nein zu einem Endlager im Südwesten sagen. Dann rollen die Castor-Transporte nicht nur durch den Aargau, sondern auch durch Stühlingen oder Gottmadingen. Wer A sagt, muss hier wohl auch B sagen – und das nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Kinder, Enkel und hunderte weitere Generationen. Generationen, die in 20.000 Jahren noch das Wissen brauchen, wie sie mit unserem Giftmüll umgehen sollen, wo wir nicht einmal manche Schrifttafeln entziffern können, die nur gut 2000 Jahre alt sind.
Was man den Schweizern lassen muss: Sie haben eine Antwort auf das Endlager-Problem
So markiert die Schweizer Standortentscheidung einen Wendepunkt. Nicht nur im nachbarschaftlichen Verhältnis, sondern auch in den Zukunftsaussichten für Südbaden. Zum Gorleben I im Aargau könnte ein Gorleben II diesseits der Grenze kommen. Das sollte allen bewusst sein, aber insbesondere denen, die den Wiedereinstieg in die Atomkraft fordern. Wegducken gilt nicht mehr, Atommüll ist eine Tatsache. Und da sind die Schweizer mit ihrem Vorgehen, so kritikwürdig es auch sein mag, dann doch ein Vorbild. Sie haben einen Endlager-Standort.