Herr Knaus, die Schweiz hat zuletzt viele Migranten einfach durchgewunken, was sie bestreitet. Und Österreich tut offenbar dasselbe – viele kommen über Wien mit dem Zug. Was halten Sie davon?

Der Begriff „Durchwinken“ trifft es nicht. Denn was zeichnet den Schengenraum aus? Dass interne Grenzen unsichtbar sein sollen und eigentlich nicht kontrolliert werden.

Sie wurden aber kontrolliert und dann in den Zug gesetzt. Die Dublin-Regeln müssten das doch eigentlich ausschließen.

Migranten sitzen im Zug und werden auf Schweizer Boden kontrolliert. Wenn sie dann keinen Asylantrag stellen, fallen sie nicht unter Dublin. Dublin-Regeln greifen nur bei Asyl.

Aber wenn Sie illegal einreisen und keinen Asylantrag stellen, müssten sie doch eigentlich ausgewiesen werden.

Wohin denn?

Zum Beispiel in das Land, aus dem sie eingereist sind, in diesem Fall Österreich.

Österreich nimmt aus der Schweiz – und auch aus Deutschland – Migranten unter den Dublinregeln zurück. Doch sogenannte „formlose Wegweisungen“ aus der Schweiz nach Österreich gab es 2022 weniger als die Finger einer Hand. Was also passiert hier wirklich? Die Schweiz ist solidarisch, anders als Griechenland, das Menschen so behandelt, dass deutsche Gerichte verbieten, sogar anerkannte Flüchtlinge zurückzuschicken. Die Länder zwischen Griechenland und Österreich behandeln Menschen so, dass sie weiterziehen.

In Ungarn kann niemand einen Asylantrag stellen. Österreich und die Schweiz tun all das nicht. Beide hatten 2022 pro Kopf mehr Asylanträge als Deutschland, die Schweiz mehr als 22.000, Österreich mehr als 100.000. Natürlich ziehen viele weiter. Um das zu verhindern, müsste die Schweiz eine Mauer um ihr Land bauen. Denn man kann Leute, die nichts verbrochen haben, ja nicht einsperren.

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Aber theoretisch müsste sich die Schweiz doch anders verhalten, oder?

Nach welcher Theorie? Der Schweizer Zoll kontrolliert und stellt fest: Es handelt sich um Migranten ohne Visum. Sie kommen aus Vorarlberg, aber man kann sie dorthin nicht zurückschicken. Sie werden gefragt, ob sie einen Asylantrag stellen wollen. Wenn sie nein sagen, sagt die Schweiz: Ihr müsst ausreisen. Es gibt aber keinen Zaun um die Schweiz. Sie werden nicht gepackt und mit Gewalt über die Grenze gestoßen wie in Ungarn. Weder nach Ungarn noch nach Griechenland werden derzeit Dublin-Rücküberstellungen gemacht.

Die Idee, dass man an der südbadischen Grenze durch mehr Kontrollen im grenzenlosen Schengenraum Menschen stoppen wird, ist eine Illusion. Sinnvoll wäre dagegen eine Bodenseekoalition gegen irreguläre Migration und für humane Kontrolle.

Alle drei Länder haben die gleichen Interessen. Sie vergeben Schutz. Sie halten sich an gültige Gesetze. Sie glauben an das Asylrecht. Und alle drei wollen irreguläre Migration nach Europa reduzieren. Der Fokus in der Debatte sollte sich darauf richten zu fragen: Was passiert in den Ländern, in denen niemand einen Asylantrag stellt? Was könnten die drei mit anderen an den EU-Außengrenzen anders machen?

Seit Dezember gibt es einen gemeinsamen Aktionsplan mit der Schweiz. Man will verstärkt kontrollieren, auch auf dem anderen Staatsgebiet. Wie schätzen Sie das ein?

Da steht drin, dass sich die Schweiz bemühen soll, die Menschen ins Nachbarland zurückzuschicken.

Also nur schöne Worte?

Worte. Die sind nicht umsetzbar. Dazu noch ein Beispiel: die bayerische Grenze zu Tschechien. Da wird jetzt auch kontrolliert. Dann werden im Monat an einem Abschnitt ein paar hundert Leute aufgegriffen und die Mehrheit, nicht alle, auch nach Tschechien zurückgeschickt.

Aber wie lange, meinen Sie, bleiben sie in Tschechien, bis sie es erneut versuchen? 2022 hat Tschechien übrigens 460.000 Anträge auf Schutz von Ukrainerinnen angenommen – das sind bei einer ähnlich großen Bevölkerung wie Baden-Württemberg dreimal mehr. Tschechien kann man nichts über die fehlende Solidarität erzählen. Die Vorstellung, dass es sinnvoll sein sollte, ein paar hundert Syrer dorthin zurückzuschicken, die sicher nicht bleiben werden – dass das ein Beitrag zu einem besseren europäischen Asylsystem ist, ist für mich nicht schlüssig. Sondern erscheint aktionistisch.

Einer der Grenzübergänge zwischen Konstanz und Kreuzlingen.
Einer der Grenzübergänge zwischen Konstanz und Kreuzlingen. | Bild: Felix Kästle/dpa

Muss man sich nicht von dem Dublin-System verabschieden? Das besteht doch nur auf dem Papier.

Wir haben ein ernstes Problem der Rechtsstaatlichkeit in Europa. In manchen Staaten werden die gültigen EU-Gesetze offen gebrochen und auch die Urteile des Menschenrechtsgerichtshofs und Europäischen Gerichtshofs offen ignoriert. Da sind Standards in der Behandlung von Schutzsuchenden festgelegt, die nicht eingehalten werden. Das ist ein ernstes Problem, und es beginnt schon an den Außengrenzen. Dort werden Menschen festgehalten, geschlagen, entführt, in offener Missachtung ihrer Grundrechte.

Deutschland hat ein großes Interesse daran, dass die gemeinsam beschlossenen Gesetze wieder gelten. Denn wenn das nicht passiert, macht es auch keinen Unterschied, welche Gesetzesreformen in Brüssel diskutiert werden. Die Folge dieser Rechtsbrüche ist, dass Asylanträge in einer kleinen Zahl von Ländern, die sich an Gesetze halten und EU-Recht umsetzen, gestellt werden.

Dazu zählen Österreich, die Schweiz, Deutschland, Frankreich. Das ist nicht neu. Von 2013 bis 2019 war das EU-Land mit den meisten Asylanträgen pro Kopf am weitesten vom Mittelmeer entfernt, nämlich Schweden. Wenn Dublin damals funktioniert hätte, wäre das unmöglich. Es gab nie Zehntausende Rücküberstellungen. Nie. Diese Erkenntnis sollte uns dazu bringen, realistischer darüber nachzudenken, wie wir irreguläre Migration so kontrollieren können, dass sie wirklich zurückgeht – anstatt Scheindebatten über die deutsch-schweizerische Grenze zu führen.

Haben Sie überhaupt noch Hoffnung, dass Europa sich bei der Flüchtlingspolitik noch auf irgendwas einigen kann?

Ich habe seit 2020 zwei Bücher geschrieben, um diese Frage zu beantworten. Europas als EU: nein. Europa als Koalitionen europäischer Demokratien: ja. Viele gute Ideen dazu finden sich auch im Koalitionsvertrag der Ampelregierung. Man will praxistaugliche Abkommen zu strategischen Rückführungen mit Transit- oder Herkunftsländern, denen man dafür auch etwas anbietet, etwa reguläre Migration, die der europäische Arbeitsmarkt ja auch dringend braucht.

Wenn man sagen würde: Ihr nehmt ab einem bestimmten Stichtag jeden zurück, der keine Chance auf einen Schutzstatus hat, und sofort jeden verurteilten Straftäter, und dafür bieten wir legale Einreisen, dann wäre das eine Win-Win-Situation. Es geht darum, die Rechtlosigkeit an den EU-Außengrenzen zu beenden, ohne die Kontrolle zu verlieren. Das steht so im Koalitionsvertrag, aber im letzten Jahr ist nichts passiert. Jetzt wurde Nordrhein-Westfalens früherer Integrationsminister Joachim Stamp zum Sonderbevollmächtigter für Migration ernannt, der solche Verträge verhandeln soll. Das ist die richtige Richtung.

In der Flüchtlingskrise 2015/16 damals haben Sie den Türkei-Deal entworfen. Wäre das vergleichbar?

Ja, daraus kann man viel lernen. Der Türkei-Deal ist dann allerdings Anfang 2020 zusammengebrochen, nachdem die EU nicht mehr bereit war, der Türkei, dem Land mit den meisten Flüchtlingen weltweit, weiter ähnliche Hilfe anzubieten. Erdogan versuchte dann brutal und plump die EU an der Landesgrenze zu erpressen und Griechenland reagierte mit nackter Gewalt. Seither nimmt die Türkei niemanden mehr zurück. Und Griechenland setzt auf Pushbacks. Die erreichen ihr Ziel; es kommen immer weniger Flüchtlinge über diese Grenze.

Doch der Preis ist ein Kollaps der Rechtsstaatlichkeit. Um diese wiederherzustellen, müssen wir mit Transit- und Herkunftsstaaten verhandeln. Im Gegenzug könnten die Flüchtlinge, die irregulär kommen und die anderswo sicher sind, nach einer schnellen Prüfung zurückgebracht werden. Keine Regierung in Athen wird je wieder einfach ihre Grenzen öffnen. Das sind die Alternativen.

Müsste das die EU gemeinsam aushandeln?

Der Schlüssel ist: Staaten, die ein gemeinsames Interesse haben, müssen sich zusammentun. Die EU hat ein Problem in dieser Frage: das, was für mögliche Partnerländer attraktiv ist, können EU-Institutionen gar nicht anbieten. Weil weder Arbeitsmigration noch Stipendien eine Kompetenz der EU sind, können das nur Nationalstaaten.

Die Briten wollen Asylbewerber in Ruanda unterbringen. Was halten Sie davon?

Migrationspartnerschaften sind sinnvoll. Das Ziel, dass weniger Menschen irregulär den Ärmelkanal überschreiten, ist richtig, denn jeder ist in Frankreich sicher. Es gibt kein Recht, sich ein sicheres Land auszusuchen. Doch all dies mit Ruanda zu machen ist trotzdem absurd.

Die offensichtliche Einigung, die London bräuchte, wäre mit Frankreich. Wenn dieses bereit wäre, alle, die mit dem Boot nach Großbritannien kommen, sehr schnell zurückzunehmen, eine Art Turbo-Dublin nach einer kurzen Prüfung, und Großbritannien dafür bereit wäre, 30.000 Flüchtlingen, die sich dafür bewerben könnten, aus der EU direkt und organisiert aufzunehmen hätte man die irreguläre Migration drastisch reduziert, die gefährlichen Überfahrten wären Geschichte, Großbritannien würde mehr Menschen Schutz bieten als heute. Jeder würde gewinnen.