Es ist sieben Uhr morgens, einzelne Pendler hetzen durch die dunklen und vor allem kalten Straßen von Buchs, die noch nass vom Regen am Vorabend sind. Während die Kleinstadt, Grenzort der Schweiz zu Liechtenstein, noch zu schlafen scheint, machen sich am dortigen Bahnhof zehn Männer auf Gleis 4 bereit. Sie tragen blaue Uniformen und Schutzwesten mit der Aufschrift Zoll, an ihren Gürteln hängen Pistolen.
Denn gleich kommt der Nachtzug aus Wien – darin sitzen vermutlich dutzende illegale Migranten. Seit Monaten reisen durchschnittlich 1000 von ihnen pro Woche über Buchs ein – 150 am Tag. Es steht der Vorwurf im Raum, Schweizer Behörden und die Bahn SBB würden sie von dort gezielt nach Deutschland weiterschleusen. Und Buchs soll das Drehkreuz sein. Doch was passiert hier tatsächlich?

Gegen halb acht fährt der Nachtzug mit knapp 25 Minuten Verspätung ein, die Bremsen quietschen. Als der Zug steht, eilt die Hälfte der Uniformierten hinein. „Die Flüchtlinge sitzen meist in der Mitte des Zuges“, erklärt einer, während er konzentriert auf den Zug blickt. Wer fremdländisch aussieht, dessen Papiere kontrolliert der Schweizer Zoll. Einen dunkelhäutigen Mann, der nur zur Arbeit fahren wollte, erwischt es zu Unrecht.
Verstößt die Schweiz gegen das Schengener Abkommen?
„Schon diese systematischen Kontrollen an der Grenze sind ein Verstoß gegen das Schengener Abkommen“, sagt Sarah Progin-Theuerkauf. Sie ist Professorin für Europarecht und europäisches Migrationsrecht an der Universität Fribourg in der Schweiz. Zwar könne die Schweiz systematische Grenzkontrollen wieder einführen, sagt sie, allerdings müsste sie diese zuvor offiziell bekannt machen. Das ist nicht erfolgt.
Laut Staatssekretariat für Migration (SEM) seien die Grenzkontrollen hingegen Schengen-konform, da sie nicht systematisch, sondern risikobasiert stattfänden. Obwohl der Zoll laut den Beamten vor Ort den Nachtzug seit Monaten fast täglich kontrolliert.
Geflüchtete wirken ängstlich und verunsichert
Die Beamten in Buchs holen die Migranten, die illegal einreisen wollen, nach und nach aus dem Zug. Sie geben Anweisungen auf Englisch, sammeln die Flüchtlinge direkt auf dem Gleis, wo sie sich in einer Linie vor einem grauen Gebäude aufstellen müssen.

Es sind fast ausschließlich junge Männer in Trainingsanzügen oder Kapuzenjacken. Sie blicken sich mit glasigen Augen um, wirken übermüdet, abgekämpft und ruhig – fast sogar unterwürfig. Gepäck ist kaum zu sehen, nur vereinzelt Rucksäcke oder Plastiktüten. Einige von ihnen haben Wunden im Gesicht und an den Händen – die Krätze, erklären die Einsatzkräfte. Auch Diphtherie und Tuberkulose kämen hin und wieder vor, ein Mann humpelt. Vor allem die Afghanen zeigten oft auch Spuren von Folter, so ein Beamter. Medizinische Hilfe würden sie dennoch meist ablehnen.
Nach 20 Minuten hört man die Stimme eines Beamten aus einem der Funkgeräte: „Keine weiteren Migranten aus dem Zug holen, wir sind voll.“ Wer noch drin sitzt, darf unkontrolliert Richtung Zürich weiterfahren. 85 illegal Einreisende wurden entdeckt – drei Viertel davon aus Afghanistan, der Rest aus Tunesien, Marokko und Indien.
Nachdem alle durchgezählt sind, führen die Beamten die Geflüchteten einmal um das kleine graue Gebäude herum. In den 1950er-Jahren wurde es gebaut, um einreisende italienische Gastarbeiter zu erfassen. Nach dem niedergeschlagenen Aufstand in Ungarn 1968 flüchteten viele Ungarn über Buchs in die Schweiz. Eine Tafel vorn am Gebäude erinnert daran. In den 1990er-Jahren wurde das Häuschen zur Drehscheibe für Flüchtlinge aus dem zusammenbrechenden Jugoslawien.
Flüchtlinge wollen nach Deutschland und Frankreich
Nun sind die 85 Menschen aus dem Nachtzug drin. Für Passanten und die Presse ist der Zugang zu dieser Blackbox verboten. Wer dort was genau macht, bleibt verborgen. Auf jeden Fall erfassen die Beamten Personalien und Fingerabdrücke. Wer sich als straffällig herausstellt, werde festgenommen, erklärt ein Mann vom Zoll. Alle anderen dürften weiterreisen. Denn einen Asyl-Antrag in der Schweiz stellen die Flüchtlinge nicht, sie wollen nur weiter nach Deutschland oder Frankreich.

Einer von ihnen ist Shafiq. Er sei seit knapp einem Jahr auf der Flucht, zwei Tage war er in Wien, berichtet er in bruchstückhaftem Englisch. Sein Ziel: Hamburg, die einzige deutsche Stadt, die er neben Berlin kennt. Papiere hat er keine, trotzdem will er weiter. Die Zollbeamten lassen das zu. Behaupten, sie hätten keine Handhabe dagegen. Stimmt das?
Muss die Schweiz ein Dublin-Verfahren einleiten?
Expertin Progin-Theuerkauf sieht das zwiespältig. Die Flüchtlinge direkt an der Grenze abweisen – das dürfen die Beamten nicht. „Aber wenn der Zoll die Einreisenden schon kontrolliert, dann müssen diese dem richtigen Verfahren zugeführt werden. Jedenfalls muss man den Migranten klar machen, dass sie illegal im Land sind und nicht einfach weiterreisen dürfen“, sagt die Professorin.
Möglich sei ein Dublin-Verfahren zur Rückführung des Asylsuchenden in den zuständigen Staat oder ein Verfahren zur Rückführung ins Herkunftsland. Sie erklärt: „Anhand des Fingerabdrucks sieht man bei Grenzkontrollen sofort, ob ein Migrant bereits in einem anderen Land einen Asyl-Antrag gestellt hat.“
Gibt es bereits einen Asyl-Antrag in einem anderen Land, zum Beispiel Österreich, müsse die Schweiz ein Wiederaufnahmegesuch an Österreich stellen. Das dauert aber mehrere Wochen. Gibt es noch keinen Treffer per Fingerabdruck und der Migrant stellt keinen Asyl-Antrag in der Schweiz, sei er illegal im Land und müsste in sein Herkunftsland zurückgeführt werden, so Progin-Theuerkauf.
In der Praxis brauchen beide Verfahren aber viel Zeit und und die Entscheidungen müssen schriftlich ergehen. Die Migranten reisten derweil einfach weiter, da man sie nicht systematisch in Haft nehmen könne.
Laut Staatssekretariat hat die Schweiz zwei Monate Zeit, um ein Dublin-Verfahren einzuleiten. Wenn eine Person zuvor die Schweiz verlässt, erübrige sich das Verfahren, da es nur für „auffindbare und anwesende Personen“ durchgeführt werden könne.
SBB-Mitarbeiter sammeln kontrollierte Flüchtlinge ein
Warum die Geflüchteten nicht mehr auffindbar sind, wird in Buchs schnell deutlich: Es wirkt wie eine Absprache zwischen Behörden und SBB, was auch Progin-Theuerkauf vermutet – auch wenn die SBB das auf Nachfrage bestreitet und auf ältere Stellungnahmen dazu verweist.

Denn nach der Zoll-Kontrolle in Buchs werden die Migranten gezielt in den gläsernen Vorraum des grauen Häuschens entlassen. Dort warten Mitarbeiter der SBB. Sie sammeln die Geflüchteten – und verkaufen ihnen Zugtickets, wenn sie noch keine haben. Alle Richtung Zürich. Oft sind es Gruppentickets.
Eines davon nutzt Sulejman, 26 Jahre alt, aus Kabul in Afghanistan. Er ist zusammen mit vier anderen Afghanen unterwegs, hat sie auf der Flucht über den Iran, die Türkei, Bulgarien und Serbien bis nach Österreich kennengelernt. Die SBB hat sie mit einem Gruppenticket nach Zürich versorgt, sie wollen nach Deutschland. Papiere habe er keine dabei.

Sobald sich eine solche Gruppe gefunden hat, führen SBB-Mitarbeiter sie wieder auf Gleis 4 raus. Dort müssen sie warten. Die Sicherheitsleute der SBB passen auf, dass alle beisammen bleiben. Die Migranten wirken nun selbstbewusster, einige reden und lachen sogar miteinander. Immer wieder fragen die jungen Männer gestikulierend, wann der Zug nach Zürich fährt. Sie wirken ungeduldig. Doch noch müssen sie warten – bis fünf nach halb neun.
„Problematisch“: Sicherheitsleute bringen Migranten zum Zug nach Zürich
Dann bringt einer der SBB-Leute, fröhlich ein Lied pfeifend, die Geflüchteten durch die Unterführung auf Gleis 1. Dort fährt immer um Viertel vor der Interregio nach Zürich ab. Drüben angekommen, wartet die illegale Reisegruppe geschlossen ganz am Ende des Bahnsteigs. Denn die SBB hält einen eigenen, den letzten, Waggon nur für sie frei. Übliche Praxis bei größeren Gruppen, die zusammen reisen, behauptet der Sicherheitsmann und die SBB auf Nachfrage. Auch für Fußballfans gebe es eigene Wagen.
„Problematisch“, findet hingegen Migrationsrechtlerin Progin-Theuerkauf dieses Vorgehen. „Dass die SBB gezielt Tickets in Richtung deutscher und französischer Grenze verkauft und die Flüchtlinge zum richtigen Zug bringt, fördert die Sekundärmigration“, befindet sie. Das gehe über die gesetzliche Beförderungspflicht der SBB hinaus. Und die Förderung illegaler Weiterreise in ein Schengen-Land ist laut dem Schweizer Ausländer- und Integrationsgesetz sogar strafbar.
Die SBB sagt auf Nachfrage dagegen, das Vorgehen entspreche noch ihrer Beförderungspflicht. Privatpersonen sind laut Progin-Theuerkauf für solche Taten in der Schweiz jedoch schon verurteilt worden. „Das Staatssekretariat für Migration müsste hier eingreifen“, sagt sie.
1700 Flüchtlinge reisen pro Monat über die Schweiz ein
Stattdessen fahren die Migranten ungestört nach Zürich. Dort leitet SBB-Personal laut einem Mitarbeiter in Buchs die illegalen Fahrgäste erneut auf die gleiche Weise in Züge nach Basel, von wo sie auf eigene Faust in ihre Zielländer Frankreich, besonders bei den Tunesiern beliebt, und Deutschland weiterreisen. Allein im Oktober kamen laut Bundespolizei-Angaben so 1739 illegale Migranten über die Schweiz nach Deutschland.

Die Statistik weiter füllen könnten bald Nashib und Abdullah, beide nach eigenen Angaben 14 Jahre alt und aus Afghanistan. Sie wollen über Basel nach Frankfurt am Main, wo Abdullahs Cousin seit einigen Jahre wohne, erklären sie mittels Google-Übersetzer. „Wer illegal einreisen will, findet immer einen Weg“, kommentiert Progin-Theuerkauf. Illegale Migration sei kaum zu verhindern, und wenn, dann nur durch Reformen auf europäischer Ebene. Die Schweiz und Österreich haben einen gemeinsamen Aktionsplan vorgeschlagen, der unter anderem grenzüberschreitende Einsätze vorsieht.
In Buchs wiederum wiederholt sich das Prozedere immer wieder – um 8.45 Uhr, 9.45 Uhr, 10.45 Uhr. Noch immer kontrolliert der Zoll im grauen Gebäude die letzten der 85 illegal Eingereisten. Und um zwölf Uhr fährt der nächste Zug aus Wien ein, vermutlich mit weiteren Geflüchteten, sagt ein SBB-Mann und zuckt mit den Schultern.