Für die Bundespolizisten in der deutsch-schweizerischen Grenzregion muss sich die Lage derzeit ein bisschen anfühlen wie 2015/16: Ständig greifen sie Menschen auf, die sich eigentlich gar nicht in Deutschland aufhalten dürften, weil sie keine gültigen Einreisepapiere haben. Waren es im April noch 167 Personen, die illegal über die Schweizer Grenze nach Deutschland kamen, sind es im August schon 481, im September 864, im Oktober 1739.
Es handelt sich um einen exponentiellen Anstieg – steil nach oben geht die Kurve. Legt man nur die Zahlen der illegalen Einreisen zugrunde, die in Südbaden bei Kontrollen auffallen, dann ist die Entwicklung der vergangenen Monate dazu angetan, den Höhepunkt der Flüchtlingskrise in der Region vor inzwischen sechs Jahren zu toppen.
Zum Vergleich: 2016 kamen 7138 Menschen illegal über die Schweiz nach Deutschland, 2021 waren es laut polizeilicher Eingangsstatistik der Bundespolizei 2129. Im laufenden Jahr kamen bis Ende Oktober 4794 Menschen illegal über die Schweizer Grenze. Die November-Zahlen sind noch nicht bestätigt – aber die Tendenz geht weiter nach oben.
Wobei man einschränkend hinzufügen muss: Damals, 2015/16, verliefen die Haupt-Fluchtrouten anders. Die Mehrheit der Migranten kam über den Balkan, Ungarn und Österreich – und zwar nach Bayern, von wo aus die Menschen auf Flüchtlingszentren in ganz Deutschland verteilt wurden. Der Weg über die Schweiz war damals nicht gängig, erfreut sich aber in den letzten Wochen und Monaten zunehmender Beliebtheit.
SBB verkauft gezielt Tickets
Das belegte kürzlich eine Recherche des SÜDKURIER vor Ort. Drehkreuz ist Buchs, ein kleiner Grenzort der Schweiz zum Fürstentum Liechtenstein. Derzeit reisen dort 1000 Migranten pro Woche mit dem Zug aus Wien ein – und werden durchgewunken. Die Schweizer Behörden lassen die Ankömmlinge in Richtung deutsches Grenzgebiet weiterreisen, so der Vorwurf – den der SÜDKURIER vor Ort bestätigt fand. Die Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) verkaufen gezielt Tickets in Richtung deutscher und französischer Grenze und bringen die Flüchtlinge zum richtigen Zug.
Vorgesehen ist das so nicht. Die Dublin-III-Verordnung, an die sich die Schweiz als Staat, der dem Schengen-Raum angehört, zu halten verpflichtet hat, ist da ganz klar: Gibt es bereits einen Asyl-Antrag in einem anderen Land, zum Beispiel Österreich, müsste die Schweiz eigentlich ein Wiederaufnahmegesuch an Österreich stellen.
Das erläutert Sarah Progin-Theuerkauf, Professorin für Europarecht und europäisches Migrationsrecht an der Universität Fribourg in der Schweiz. Gibt es keinen anderen Asyl-Antrag und der Migrant stellt auch keinen in der Schweiz, ist er illegal im Land und müsste in sein Herkunftsland zurückgeführt werden.
Auch die Bundespolizei hat ihre Tricks
Beides ist langwierig und aufwendig – also reisen die Migranten einfach weiter. Greift die Bundespolizei sie dann auf deutscher Seite auf, hat sie wenig Spielraum. Wer Asyl begehrt, hat Anspruch darauf, dass dieser Antrag geprüft wird. Selbst wenn die Person bereits in einem anderen europäischen Staat einen Asyl-Antrag gestellt hat, ist die Rückführung nicht leicht. Denn das zu überprüfen dauert Wochen.
Erst danach kann ein Dublin-Verfahren eingeleitet werden, Deutschland kann ein Übernahmeersuchen an den anderen Staat, beispielsweise die Schweiz, stellen. Die Schweiz müsste dem Ersuchen aber zustimmen. Erst dann kann Deutschland eine Abschiebung dorthin anordnen – doch Geflüchtete können dagegen Einspruch einlegen. In dieser Zeit können sich die Antragsteller frei bewegen – viele reisen weiter.
Ganz hilflos ist die Bundespolizei indes nicht. Wie der SÜDKURIER aus gut unterrichteten Kreisen erfährt, werden die meisten illegal Eingereisten derzeit auf der Bahnstrecke Schaffhausen-Singen aufgegriffen – und zwar auf Schweizer Staatsgebiet.
Dort gilt nämlich die so genannte Zonenvereinbarung, die noch aus der Zeit stammt, als es feste Grenzkontrollen gab. Sie berechtigt die Polizei der angrenzenden Nation dazu, auf bestimmten grenznahen Teilen des fremden Staatsgebiets aktiv zu werden, also zu Beispiel Ausweise kontrollieren. Ursprünglich sollte diese Regelung der Arbeitserleichterung dienen.
Mit Hilfe eines Rechtskonstrukts gar nicht eingereist
Die Flüchtlinge werden dann mit nach Singen genommen und zurück in die Schweiz geschickt. Der Trick: Sie gelten als nicht eingereist, obwohl sie sich physisch auf deutschem Staatsgebiet befinden – da sie von der Grenze bereits aufgegriffen wurden. Das Rechtskonstrukt nennt sich „Fiktion der Nichteinreise“. Die gleiche Methode nutzte die Bundespolizei übrigens bereits vor Monaten, als viele Menschen mit dem Flixbus aus Mailand illegal einreisen wollten. Diese Flixbuslinie wurde inzwischen eingestellt.

Ob der Trick der Zonen-Aufgriffe überhaupt einen Effekt hat, ist allerdings fraglich. Oft genug setzen sich die Flüchtlinge einfach in den nächsten Zug nach Deutschland.
Es scheint, als hätte die Politik aus der Flüchtlingskrise 2015/16 wenig gelernt. Auf europäischer Ebene hat man sich noch immer nicht zu einem Verteilsystem durchringen können. Die Mittelmeerstaaten, in denen die meisten Flüchtlinge anlanden, beklagen zu Recht mangelnde Unterstützung. In Deutschland hat man unterdessen genug mit der Unterbringung von Flüchtlingen aus der Ukraine zu tun. Was machen da ein paar Tausend Flüchtlinge aus, die über die Schweiz illegal einreisen? Ist das die Denke, die in Berlin vorherrscht?
BMI hat angeblich „keine Erkenntnisse“
Klar ist: Von der Bundesregierung war zum Thema bislang wenig zu hören. Rita Schwarzelühr-Sutter, SPD-Bundestagsabgeordnete aus Waldshut und als parlamentarische Staatssekretärin im Bundesinnenministerium ganz nah dran, hatte dem SÜDKURIER Ende Oktober auf Anfrage gesagt, der Bundespolizei lägen keine Erkenntnisse einer Mithilfe seitens der Schweizer Behörden zur illegalen Einreise vor. Gleichwohl würde man die steigenden Zahlen der illegalen Einreisen aus der Schweiz genau beobachten.
Aktuell bekommt der SÜDKURIER keine Stellungnahme – sie habe Termindruck, heißt es von ihrem Sprecher. Auch das Bundesinnenministerium sagt noch am vergangenen Freitag auf SÜDKURIER-Anfrage abschlägig: „Dem BMI (Bundesministerium für Inneres, Anm. d. Red.) liegen keine Erkenntnisse darüber vor, dass irreguläre Weiterreisen aus der Schweiz nach Deutschland und in andere europäische Staaten von Schweizer-Behörden aktiv unterstützt werden.“
Minister Gentges wartet auf Antwort
Auf eine Antwort wartete zuletzt auch Baden-Württembergs Justizministerin Marion Gentges (CDU), die in der grün-schwarzen Koalition im Land auch für Migration zuständig ist, vergeblich. In einem offenen Brief hatte sie am 21. November Faeser um Auskunft gebeten, ob sich die Schweizer Behörden tatsächlich nicht an die Dublin-III-Verordnung hielten.
„Ich finde das ziemlich enttäuschend“, kommentierte Thorsten Frei die ausbleibende Reaktion Faesers. Das Gebaren der Schweizer Behörden und der SBB trage „fast konspirative Züge“, so der Bundestagsabgeordnete für den Schwarzwald-Baar-Kreis und Parlamentarische Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Deren Vorgehen werde noch mehr Migranten auf diese Route locken, befürchtet Frei. Das Bundesinnenministerium aber kümmere sich nicht um das Thema. „Für das BMI ist die Schweiz offenbar ganz weit weg.“

Am Dienstag nun die Kehrtwende im Innenministerium. Innenministerin Nancy Faeser und die Schweizer Bundesrätin für Justiz Karin Keller-Sutter kamen in Berlin zusammen, um einen Aktionsplan „zur Vertiefung der grenzpolizeilichen und migrationspolitischen Zusammenarbeit“ zu vereinbaren. Auch darin ist zwar nicht von Schweizer Versäumnissen die Rede, indirekt lässt die Formulierung der Ziele aber Rückschlüsse darüber zu, was bislang alles im Argen lag.
„Sofern möglich überstellt“
In Punkt II. „Migrationsrechtliche Maßnahmen“ wird unter anderem festgeschrieben, dass Fingerabdrücke von Asylsuchenden in der europaweiten Datei Eurodac erfasst werden. Vor allem aber: „Bei Asylsuchenden, die nicht in die eigene nationale Zuständigkeit fallen, wird systematisch ein Dublin-Verfahren zur Rücküberstellung der betroffenen Person in den zuständigen Staat eingeleitet.“
Wer illegal einreise und kein Asylgesuch stelle, werde „konsequent angehalten, kontrolliert, im Rahmen der rechtlichen Möglichkeiten sicherheitsüberprüft und weggewiesen.“ Die Personen sollen anschließend – „im Rahmen der jeweiligen rechtlichen und vertraglichen Möglichkeiten“ – in das Land, aus dem sie eingereist sind, oder in ihr Herkunftsland (“sofern möglich“) zurückgewiesen werden.
Der bisherigen Praxis am Grenzort Buchs ist damit zumindest theoretisch ein Riegel vorgeschoben. Die Praxis hat allerdings noch mehr Haken, wie aus Punkt 3 des Aktionsplans abzulesen ist. Dort heißt es: „Deutschland und die Schweiz setzen sich dafür ein, dass die bestehenden Rückübernahmeabkommen effektiv und umfassend angewendet werden.“ Die Rücknahmeabkommen durchzusetzen, ist oft das Problem. „Sofern möglich“ eben.
Teil III des Aktionsplans macht deutlich, wie es um die europäische Flüchtlingspolitik derzeit bestellt ist. Gemeinsam will man seine Anstrengungen für eine grundlegende Reform des europäischen Asylsystems verstärken. Alle Anstrengungen in dieser Richtung waren in den vergangenen Jahren allerdings bekanntlich zum Scheitern verurteilt.