An ihrem 60. Geburtstag erhielt Elisabeth Berger eine lähmende Nachricht. Ärzte diagnostizierten einen Tumor in ihrer Gebärmutter, viele Jahre nachdem der Krebs erstmals ausgebrochen war. Die Patientin aus dem Schwarzwald wurde „austherapiert“. Eine Operation war sinnlos.
„Die Ärzte rieten ihr, sich nur noch Gedanken über die besten Schmerzmittel zu machen“, erzählt ihre Tochter. Als Elisabeth Berger (Name geändert) von der legalen Freitodbegleitung in der Schweiz erfuhr, war für sie der Suizid beschlossene Sache. „Plötzlich hatte meine Mutter wieder das Gefühl, selbst über ihr Leben bestimmen zu können, die Ohnmacht gegenüber dem Krebs wich von ihr“, erinnert sich die Tochter.

Die Tochter und der Sohn nahmen Kontakt mit Dignitas auf, einer Schweizer Organisation zur Freitodbegleitung in Zürich, die auch Menschen aus dem Ausland hilft. Sie brachten ihre Mutter schließlich in die Schweizer Großstadt. Dort, in einer kahlen Wohnung, wartete eine Freitodbegleiterin. Ein Arzt hatte das Rezept für das todbringende Medikament Natrium-Pentobarbital ausgestellt. Elisabeth nahm das Medikament im Stehen ein. Ihren Tod bestätigten kurze Zeit später Beamte der Züricher Kantonspolizei.
Liberale Schweizer Regelung
Wie Elisabeth, deren Fall lange zurückliegt, beenden in der Schweiz jedes Jahr etliche todkranke oder schwer gebrechliche Menschen mit Hilfe von ausgebildetem Personal ihr Leben. Die liberale Regelung des Landes zum begleiteten Suizid macht das möglich. In kaum einem anderen Land Europas genießen die Suizidbegleiter so viel Handlungsfreiheit wie in der Alpenrepublik. Allein die Zahl der Freitodbegleitungen der größten Sterbehilfeorganisation Exit stieg von unter 400 im Jahr 2012 auf 1252 im Jahr 2023.
„Heute machen assistierte Suizide rund zwei Prozent aller Todesfälle in der Schweiz aus“, sagt die Exit-Chefin und Ärztin Marion Schafroth dem SÜDKURIER. „Wir erwarten auch in den kommenden Jahren steigende Zahlen und gehen von einer weiteren Zunahme bis gegen fünf Prozent aller Todesfälle aus.“ Exit zählt nach eigenen Angaben aktuell rund 180.000 Mitglieder.
Doch seit diesem Jahr drängt sich eine neue Organisation ins Licht der Öffentlichkeit: The Last Resort. Sie bietet eine gänzlich neue Form des Suizids: Den Tod in einer futuristisch anmutenden Kapsel mit dem Namen „Sarco“, eine Abkürzung für Sarkophag. Der Erfinder des Apparates, der Australier Philip Nitschke, soll sein Konstrukt unter anderem als „Tesla der Sterbehilfe“ angepriesen haben. Jetzt könnte die Kapsel das seit Jahrzehnten bestehende System des assistierten Suizids in der Schweiz ins Wanken bringen.
Ende September erfolgte in der Schweiz die tödliche Weltpremiere des Sarco. Es geschah bei einer Waldhütte in dem Örtchen Merishausen, Kanton Schaffhausen. Die US-Amerikanerin Ann, 64 Jahre alt und an Immunschwäche leidend, nahm in der Kapsel Platz und löste durch einen Knopfdruck ihr eigenes Ableben aus. Der Sarco ersetzte die normale Raumluft, die sich aus Sauerstoff und Stickstoff zusammensetzt, durch hundert Prozent Stickstoff. „Ohne Sauerstoff verliert eine Person schnell das Bewusstsein und stirbt kurz darauf“, heißt es auf der Webseite von The Last Resort. Der Tod sei „friedlich und zuverlässig“ – so behauptet das Unternehmen.
Strafverfahren eingeleitet
Kurz nach dem Tod von Ann erschien die Schaffhauser Polizei, der Kriminaltechnische Einsatzdienst und die Staatsanwaltschaft am Ort des Geschehens. Die Beamten beschlagnahmten die Suizidkapsel und ordneten eine Obduktion der Leiche an. Später eröffnete die Staatsanwaltschaft ein Strafverfahren gegen mehrere Personen wegen „Verleitung und Beihilfe zum Selbstmord“, mehrere Verdächtige kamen in Untersuchungshaft.
„Die Strafverfahren gegen mehrere Personen dauern an und sind nicht abgeschlossen“, bestätigte die Behörde gegenüber dem SÜDKURIER am gestrigen Montag. „Eine Person befindet sich nach wie vor in Untersuchungshaft“, hieß es.
Während Polizei und Staatsanwaltschaft die Öffentlichkeit über das makaber anmutende Ereignis schnell informierten, hüllen sich die Chefs von The Last Resort weitgehend in Schweigen. Eine Anfrage zu den Verdächtigen und Inhaftierten wurde zunächst tagelang nicht beantwortet, später folgte lediglich der Verweis auf ein bereits veröffentlichtes Statement.
Fest steht: Die wohl inszenierte Aktion bescherte den Betreibern von Sarco weltweite Schlagzeilen. In Schaffhausen selbst kam das Ganze hingegen weniger gut an. Die Schaffhauser Nachrichten urteilten: „Den Sarco-Machern gelingt ein perverser PR-Coup.“
Argwohn der Etablierten
Die Vorgänge in Merishausen beobachten auch die etablierten Schweizer Freitodbegleiter mit Argwohn. „Sarco könnte dazu führen, dass die Schweizer Politik detaillierte gesetzliche Regeln für den assistierten Suizid erlassen will“, warnt die Exit-Chefin Schafroth. Sie und die Leiter der anderen Sterbehilfeorganisationen stimmen überein: Die bisherigen Bestimmungen genügten völlig.
Helfer oder jeder andere dürfen laut Artikel 115 des Schweizerischen Strafgesetzbuchs nicht aus „selbstsüchtigen Beweggründen“ bei einem Suizid helfen oder dazu verleiten. Falls jemand doch aus dem Freitod Kapital schlägt, droht eine Geld- oder Freiheitsstrafe. Bei dem Sterbewilligen müssen Urteilsfähigkeit sowie weitere Voraussetzungen erfüllt sein.
Ist der Suizidwunsch über längere Zeit stabil, hat der Patient etwa bei Exit ein halbes Jahr Zeit, um seinen Todestag zu bestimmen. Der Sterbewillige muss schließlich selbst das Mittel Natrium-Pentobarbital, in Wasser aufgelöst, schlucken oder sich selbst per Spritze verabreichen. „Dieses Medikament ist vielfach erprobt und bewährt“, erklärt die Exit-Chefin Schafroth.
Kritik aus der Politik
Ganz so, wie Schafroth es befürchtet, ruft der Sarco-Suizid nun tatsächlich die Politik auf den Plan. Als einer der wichtigsten Kritiker der liberalen Schweizer Freitod-Regelung gilt der frühere Justizdirektor des Kantons Zürich, Markus Notter. In einem Interview mit dem „Tages-Anzeiger“ fordert er: „Es darf sich keine Suizidkultur breitmachen.“ Notter pocht auf die Verabschiedung eines Suizidhilfegesetzes mit klaren Grenzen.
Damit solle der Staat die Qualität der Sterbehilfeorganisationen sicherstellen und auch müsse die Urteilsfähigkeit und Ernsthaftigkeit der Sterbewilligen geprüft werden. „Es darf sich kein Zwang für ältere Menschen entwickeln, Suizidhilfe zu beanspruchen“, betont der Sozialdemokrat.
Auch auf der anderen Seite des politischen Spektrums verursacht die Suizidbox Sarco reichlich Unbehagen. Die Schweiz dürfe nicht „zum Sterbeland“ werden, sagte die Nationalrätin der rechtspopulistischen Schweizerischen Volkspartei, Nina Fehr Düsel, noch bevor der erste Sarco-Tod die Schweiz aufwühlte. Die Juristin führte rechtliche sowie ethische Bedenken gegen die Verwendung des Apparates ins Feld. Ein Verbot sei vermutlich angebracht.
Im Wald oder in den Bergen
Kopfschütteln lösen zudem einige verführerische Slogans der Sarco-Betreiber aus. Das Gerät wird auf der Webseite als „ein tragbares Objekt von ästhetischer Schönheit“ vorgestellt. Der Sarco könne in den Wald, an den Strand oder in die Berge geschafft werden, damit Menschen dort sterben können.
„Das Sterben unter einem klaren Nachthimmel oder in einem Regenschauer ist besser als ein fensterloser Raum in einem Industriegebiet“, schreiben die Autoren von The Last Resort. „Ein friedlicher Tod, umgeben von der Schönheit der Natur – was kann man daran nicht mögen?“
Tatsächlich aber sind laut Expertin Schafroth die meisten Sterbewilligen schwer krank und geschwächt. Sie wollten daheim oder in einem gewohnten Umfeld aus dem Leben scheiden. „Die Vorstellung, stattdessen an einen schönen See oder in einen rauschenden Wald zu fahren, um dort in eine Kapsel zu steigen, mag PR-mäßig gut klingen, ist jedoch schlecht praktikabel und entspricht keinem wahren Bedürfnis“, sagt Schafroth.
Vorläufig wird sich ohnehin kein Sarco-Freitod mehr in der Schweiz ereignen. Am Tag des Suizids von Schaffhausen erklärte Innenministerin Elisabeth Baume-Schneider, dass die Kapsel nicht mehr eingesetzt werden dürfe. Sie sei „in zweierlei Hinsicht nicht rechtskonform“. Sarco entspreche nicht den Anforderungen des Rechts über Produktsicherheit. Und: Der Gebrauch von Stickstoff in der Suizidbox verstoße gegen das Chemikaliengesetz. Die Betreiber The Last Resort teilt mit: „Derzeit ist der Sarco nicht zum Verkauf oder zur Ausleihe verfügbar.“