Als sich die Rathaustüren an diesem Dienstag öffnen, löst 13 Kilometer südöstlich der Pilot des Fluges BT1612 nach Mailand die Bremsen seiner Maschine. Triebwerke heulen auf. Mit Vollschub beschleunigt das Flugzeug über die Startbahn in Zürich-Kloten, die Räder lösen sich vom Beton. Einige Minuten später überquert der Flieger die Gemeinde Hohentengen.
Menschen in Hohentengen leben mit dem Fluglärm
Mit dem Fluglärm leben die Menschen hier schon immer. Viele in diesem Grenzort im Kreis Waldshut haben sich allein aus Zeitgründen damit arrangiert. Dann gibt es andere, die sich trotzdem daran stören: an der Geräuschkulisse, die den ganzen Tag und am Abend wiederholt über der Viertausend-Einwohner-Gemeinde liegt – beim Spaziergehen, beim Rasenmähen, beim Kaffee auf der Terrasse.
Jürgen Wiener weiß das. Seit Ende Mai leitet er das Rathaus von Hohentengen. Nur wenige Kilometer Luftlinie sind es von seinem Büro zum Zürcher Airport, dem internationalen Drehkreuz der Schweiz. Mehr als 200.000 Flugzeuge starten und landen hier jährlich – ein großer Teil davon nutzt die Flugschneise über der deutschen Seite des Rheins.

Es könnte schlimmer kommen. Kürzlich hat das Zürcher Kantonsparlament entschieden, dass der Flughafen zwei seiner Pisten verlängern darf: Piste 28 soll deshalb um 400 Meter nach Westen, Piste 32 um 280 Meter nach Norden – Richtung Deutschland – wachsen. Die Debatte um den Zürcher Fluglärm erreicht dadurch einen Geräuschpegel, der es allen Beteiligten schwer macht, einander zuzuhören.
Denn der Streit schwelt lange. Anwohner, Gemeinden und die Regierungen beider Länder verhandeln seit Jahrzehnten. Es geht um Fragen wie: Bis wann dürfen Flugzeuge in Kloten landen? Wann dürfen sie starten? Sind die Belastungen für Deutsche und Schweizer fair verteilt?
Staatsvertrag zwischen beiden Ländern scheiterte
Ein zäh ausgehandelter Staatsvertrag scheiterte 2012. Der Bundestag wollte nachverhandeln, die Schweiz lehnte das ab. Damit zeichnet sich auch nach 27 Jahren kein Ende des Fluglärmstreits ab. Viele am Hochrhein hoffen immer noch, dass das Abkommen irgendwie zustande kommt.
Während der Flughafen selbst erklärt, mit dem Ausbau vor allem die Sicherheit erhöhen zu wollen und den Verkehr pünktlicher werden zu lassen, befürchtet man auf deutscher Seite ganz andere Dinge.
Zum Beispiel, dass die Zahl der Starts und Landungen pro Stunde zunehmen wird, wie ein Sprecher des Verkehrsministeriums in Stuttgart sagte, kurz nachdem die Pistenverlängerungen beschlossen waren. Ähnliches erwarten die CDU-Bundestagsabgeordneten der Region – Andreas Jung für Konstanz, Thorsten Frei für Schwarzwald-Baar und Felix Schreiner für Waldshut – wie sie nun in einem Schreiben bekräftigen.
Der Flughafenbetreiber beharrt darauf: „Zwischen Pistenlänge und Kapazität besteht kein Zusammenhang.“ Der Ausbau bringe mehr Stabilität im Betrieb und Nachtruhe. Mit verlängerten Pisten, so betont es eine Sprecherin, könnten nicht mehr Flugzeuge starten und landen, das sei technisch gesehen gar nicht möglich.

Skeptisch ist auch Jürgen Wiener. „Ich bin kein Fachmann“, sagt der Bürgermeister von Hohentengen. „Und ich sage nicht, dass es so sein wird.“ Aber er könne sich schon vorstellen, dass die Flugbewegungen von und in Richtung Deutschland durch die geplante Pistenverlängerung in Verbindung mit den Schnellabrollwegen für größere Maschinen mehr werden könnten.
Wäre das so, hätte das nicht nur Folgen für den Lärm am Hochrhein, sondern auch für die Umwelt, die durch mehrere Flieger entsprechend stärker belastet wird – etwa durch Treibhausgase oder Kerosin.
Es fehlt der Austausch, beklagen die CDU-Politiker der Region. Bisher sei der Dialog zwischen den betroffenen Landkreisen mit dem zuständigen Bundesverkehrsministerium immer gegeben gewesen. „Diese Kontinuität fehlt derzeit“, kritisieren Jung, Frei und Schreiner, die auch bei der Bundesregierung nochmal nachfragten.
Ergebnis: Es gibt gerade keine Gespräche mit den Schweizern. Weder über die Frage, wie man generell Auswirkungen über Süddeutschland reduzieren könne. Noch über mögliche Folgen der Pistenerweiterung für die Region. „Wir halten das für einen schweren Fehler. Wenn erstmal Fakten durch die Flughafen Zürich AG geschaffen sind, ist es zu spät, gemeinsam mit den Schweizern für einen Ausgleich der Interessen zu sorgen.“
Politiker aus Südbaden kritisieren Bundesregierung
Anders als in der Region geht man in Berlin zumindest offiziell nicht davon aus, dass die Maßnahmen in Zürich zu mehr Flugverkehr führen werden. Das haben sowohl eine Anfrage des SÜDKURIER als auch eine Anfrage der CDU-Politiker ergeben.
In den Augen der Abgeordneten scheinen die Interessen der hiesigen Bevölkerung für die Ampel wenig bedeutend zu sein. „Anders sind die halbherzigen Aussagen nicht zu deuten“, schreiben die Abgeordneten, die ein klares Bekenntnis zu deutschen Interessen fordern: „Die Sorgen der Bevölkerung müssen endlich ernst genommen werden.“
Jürgen Wiener steht indes am Fenster seines Rathaus-Büros. Viele Kilometer darüber hinterlässt der Airbus A380 Kondensstreifen am blauen Himmel. Von Osten her kündigt sich ein anderer Flieger an. Der Bürgermeister sagt: „Bisher sind wir wenig gehört und informiert worden. Wir wollen besser eingebunden sein.“
Der Flughafen sei schließlich schon lange da. Die einen mögen sich zwar über ihn beschweren, andere Bürger nutzen ihn aber, arbeiten vielleicht sogar dort. Nicht viel anders sei es auf der anderen Seite des Rheins. „Wir möchten, dass die Belastungen gleichmäßiger verteilt sind: in den verschiedenen Himmelsrichtungen“.
Denn wer glaubt, dass die Pistenverlängerung nur die Deutschen beschäftigt, der irrt. Die Maßnahmen sind auch in der Schweiz umstritten. Das alleine zeigt, wie lange das Kantonsparlament für seinen Entscheid gebraucht hatte: acht Stunden Debatte, 81 Wortmeldungen – und selbst dann fiel das Urteil nur knapp für den Ausbau aus.
Endgültig entscheiden werden aber voraussichtlich die Zürcher Stimmberechtigten selbst über den Ausbau des Zürcher Flughafens. Ein mögliches Referendum würde voraussichtlich nicht vor März 2024 stattfinden.