Es ist still im Gerichtssaal in Brugg, als Gerichtspräsident Sandro Rossi das Urteil eröffnet. Der beschuldigte Vater hatte Tage zuvor noch erklärt, er habe sein Kind nie grob behandelt. „Dem muss das Gericht entgegnen: Sie haben es misshandelt“, sagt Rossi. Nicht ein- oder zweimal, sondern mehrfach. „Ab einem Moment, als es nicht viel mehr als ein ‚Hämpfeli‘ [Anm.d.Red.: eine Handvoll] Leben war.“
Der Kopf des Babys wird vor- und zurückgeschleudert
Einstimmig hat das Gericht entschieden, dass der Mann der versuchten vorsätzlichen Tötung schuldig ist. Im Oktober 2022 war er alleine mit den Kindern zu Hause. Das jüngere wollte nicht trinken, der Vater bereitete mehrmals vergebens einen Schoppen vor und wurde „hässig“ [wütend]. Er legte den Säugling aufs Bett und drückte ihn vier- bis fünfmal heftig und ruckartig in die Matratze, der Kopf des Babys wurde dabei vor- und zurückgeschleudert.
Der Vater stützt sich auf dem Brustkorb ab
Als das Baby Glugg-Laute von sich gab, hörte der Vater auf. Doch er stützte sich weiter mit der rechten Hand auf dem Brustkorb des Säuglings ab – ihn plagte ein Hexenschuss und er wollte sich dehnen. Erst als er die Position wechselte, ließ er das Kind los, worauf dieses jammerte und stöhnte. Beunruhigt nahm der Vater den Säugling auf den Arm und ging mit ihm ans Licht – das Kind wirkte wie benommen, angetrunken.
Der Säugling trägt irreversible Schäden davon
Danach, so schilderte es der Vater in der Verhandlung, habe er das Kind auf dem Arm getragen, sei gestolpert und gestürzt. Das Baby musste im Kantonsspital Baden künstlich beatmet werden, erlitt diverse Netzhautblutungen, Hirnblutungen und irreversible Schäden als Folge von Sauerstoffmangel. Es ist stark sehbehindert und in seiner Entwicklung stark beeinträchtigt, sein Leben ist verkürzt.
Die Verletzungen sollen beim Sturz entstanden sein
Der Beschuldigte gab zwar seine Taten zu, zeigte sich aber überzeugt, dass die Verletzungen beim Sturz und nicht beim „Wippen“, wie er das Schütteln des Babys konsequent nannte, entstanden seien. Tatsächlich hält es das Gericht für wahrscheinlich, dass es diesen Sturz gab, und kann zumindest nicht ausschließen, dass ein Teil der Verletzungen darauf zurückzuführen ist. Die schwerste Verletzung, die Hirnblutung, kann nicht sicher dem Sturz oder dem Schütteln zugeordnet werden. Der Vater ist dafür – juristisch gesehen – nicht verantwortlich.
Kein Missgeschick, kein Unfall, sondern eine Straftat
Rossi erklärt, warum dennoch ein Schuldspruch erfolgt: „Allein das vier- bis fünfmalige Schütteln wird vom Bezirksgericht Brugg als Inkaufnahme einer möglichen Tötung angesehen.“ Darüber hinaus habe der Beschuldigte aber noch immer nicht vom Säugling abgelassen und diesen während längerer Zeit in die Matratze gedrückt. „Dass das junge Leben körperlichen Übergriffen ausgesetzt war, war weder ein Missgeschick noch ein Unfall, sondern eine Straftat“, stellt Rossi klar.
Der Vater wurde zuvor schon übergriffig
Der Vater hatte das Kind zudem bei mehreren anderen Gelegenheiten misshandelt, wenn es geschrien hatte. So soll er es in einer sitzenden Position am Nacken nach vorn gedrückt haben, sodass es keine Luft mehr bekam, oder ihm Hände und Füße so stark gedrückt haben, dass die Knochen brachen.
Er muss sich auch für eine Körperverletzung verantworten
„Zweieinhalb Jahre sind vergangen, die zur Reflexion hätten genutzt werden können. Es ist unverständlich, dass Sie immer noch von ‚Brüchli‘ sprechen. Das Kind hatte Knochenbrüche“, sagt der Gerichtspräsident. Der Vater wird auch der versuchten schweren Körperverletzung und der mehrfachen, teilweise versuchten, qualifizierten einfachen Körperverletzung schuldig gesprochen.
Sie verletzten die Erziehungs- und Fürsorgepflicht
Dass das ältere Geschwister in zweierlei Hinsicht habe herhalten müssen, irritierte das Richtergremium noch mehr. Der Vater hatte die Vorfälle mithilfe des älteren Kindes imitiert, um zu beweisen, dass das Drücken auf den Brustkorb gar nicht so schlimm war. Zudem hatten beide Elternteile das Kind als möglichen Verursacher der Verletzungen ins Spiel gebracht. Damit machten sie sich der Verletzung der Erziehungs- und Fürsorgepflicht schuldig.
Freispruch von den Vorwürfen der Pornografie
Freigesprochen wurden beide von den Vorwürfen der Pornografie und der sexuellen Handlungen mit Kindern. Es gab einzelne Videoaufnahmen im Fundus der Familie, in denen die Staatsanwaltschaft sexuelle Handlungen ausmachte – dem stimmte das Gericht nicht zu. Auch, dass die Mutter die Verletzungen eher hätte entdecken müssen, sah das Gericht anders, da auch der Kinderarzt nichts Verdächtiges festgestellt hatte.
Der Richter zeigt kein Verständnis für die Handlungen
„Säuglinge, wie alle Kinder, können nerven und halten sich nicht an Tagespläne von Erwachsenen. Sie können Eltern an den Rand des Wahnsinns treiben“, hielt Rossi fest. „Dass in einer solchen Situation der Säugling nicht einfach auf den Boden gelegt und Abstand gesucht wird, ist absolut unverständlich – der von Ihnen gewählte Schritt hin zur körperlichen Züchtigung gar verwerflich“, sagt er zum Vater. Dieser erhält eine Freiheitsstrafe von zwölf Jahren. Die Mutter wurde zu einer bedingten Freiheitsstrafe von zwölf Monaten verurteilt.
Der Autor ist Redakteur der „Aargauer Zeitung“. Dort ist dieser Beitrag auch zuerst erschienen.