Ein nackter weiblicher Körper in Rückenlage, die Schenkel gespreizt, das fotorealistisch erfasste Geschlecht schutzlos präsentiert: Bis das Publikum ein Jahrhundert später noch ganz anderen Offenbarungen ausgesetzt wurde, galt „Origine du monde“ (Der Ursprung der Welt) als das Schockbild der neueren Kunstgeschichte schlechthin – ein Tabubruch. Gustave Courbet hatte es 1866 für einen ägyptischen Diplomaten gemalt, der es, so wird erzählt, hinter einem Vorhang verborgen hielt und nur ausgewählten Gästen zeigte. 1995 wurde es im Pariser Musée d‘Orsay öffentlich zugänglich gemacht. In der Fondation Beyeler war „Origine du monde“ 2014 in der Gustave-Courbet-Ausstellung zu sehen. Es war die heimliche Sensation, Proteste gab es keine.

Betrachter werden zu Komplizen

Das könnte sich mit der neuen Ausstellung ändern: Die Fondation zeigt 40 Werke aus dem Werk von Balthus, dem „Maler der Mädchen“. Der Autodidakt, der sein Handwerk im Pariser Louvre lernte, wo er die Alten Meister kopierte, betont nicht die Unschuld der Geschöpfe an der Schwelle zur Pubertät, sondern ihre Laszivität. Balthus stellt die Mädchen am Kamin dar, im Bad, mit Spiegel, Buch oder Katze, in träumerischer Versunkenheit, mal gelangweilt, mal lächelnd, in Kniestrümpfen und kurzem Rock, der mehr Bein als nötig zeigt – die Betrachter dieser Porträts macht er zu seinen Komplizen.

2013 in New York gab es Proteste. Balthus‚ Bilder wurden im Metropolitan Museum in einer Ausstellung mit dem Titel „Cats and Girls. Paintings and Provocations“ (Katzen und Mädchen. Malerei und Provokationen) gezeigt. Eines der markantesten Werke, „Thérèse rêvant“ (Thérèse träumt) ist nun auch in Basel-Riehen zu sehen. In einer Online-Petition fordern seit November vergangenen Jahres mehr als 12.000 Menschen, dass das New Yorker Museum das 1938 entstandene Gemälde abhängt – oder besser kontextualisiert. Denn Thérèse hat ihre Augen fest geschlossen und ihre Beine gespreizt. Auf dem weißen Höschen hat der Künstler einen rosa Akzent gesetzt, als hätte er die sich unter dem Stoff abzeichnende Scham betont oder die Kindfrau gerade ihre erste Periode bekommen.

Solche Darstellungen machten Kinder zu Sexobjekten und propagierten Voyeurismus, argumentieren die Kritiker. Die Bilder trügen zu einem gesellschaftlichen Klima bei, das sexuelle Übergriffe toleriert. Das Metropolitan Museum zeigte sich bisher stur, zitierte die Freiheit der Kunst, hing das Bild nicht ab und ergänzte auch keinen Kontext. Und die Fondation Beyeler?

Die Ausstellung in Basel-Riehen wird von einem Vermittlungsangebot begleitet. Es reicht von der Podiumsdiskussion bis hin zu Führungen. Eine Kommentarwand soll das Pro und Contra reflektieren. Zudem stehen in den Sälen auch Kunstvermittler bereit.

Es ist nicht die erste laute Debatte, Balthus‚ Bilder betreffend. 1934 outete der Künstler seine Vorlieben, griff mit Bildern wie „Alice im Spiegel“ und „Gitarrenstunde“ der „Kunst unter den Rock“, so Kunsthistoriker Werner Spies. Der der Ausstellung folgende Skandal machte den bis dahin wenig erfolgreichen Maler bekannt. Es war wohl eine kalkulierte Provokation. Der Eklat, den „La Leçon de Guitare“ (Gitarrenstunde) hervorrief, sorgte dafür, dass Balthus 40 Jahre lang jede Präsentation und Reproduktion des Bildes untersagte.

Das Werk zeigt eine Frau, auf ihrem Schoß ein Mädchen, dessen Rock bis zum Nabel zurückgeschlagen ist. Die Frau hält mit der einen Hand den Kopf des Kindes, mit der anderen umfasst sie den Schenkel unterhalb des nackten Geschlechts. Das Mädchen wiederum greift, Halt suchend, nach dem Kleid der Älteren und entblößt dabei ihre Brust. Obgleich Balthus nicht in der Sammlung der Fondation vertreten ist, sind Werke des Künstlers über das Gründerpaar, Ernst und Hildy Beyeler, vermittelt und verkauft worden, darunter auch die „Gitarrenstunde“.

Er konnte auch anders

Das Prunkstück der Retrospektive in der Fondation zeigt einen Balthus, der auch „harmlose“ Porträts lieferte – wie das 1937 entstandene „La jube blanche“ (Der weiße Rock), ein Bildnis seiner ersten Frau Antoinette de Watteville. Überhaupt: Keines seiner Modelle beklagte je einen sexuellen Übergriff. Bei all seinem Appetit aufs nackte Fleisch: Balthus lässt seinen Lolitas, die auf ihre Betrachter bisweilen wie Puppen wirken, ihre Würde und ihren Stolz. Ihr Blick geht oft nach innen. Von Pornografie zu reden, verbietet sich. Zu deutlich tritt der Künstler aus diesen Bildern hervor.

Balthus erprobte Malstile, Techniken und Farbwirkungen wie in der japanischen Kunst – seine zweite Frau ist Japanerin – oder den Fresken der Renaissance-Maler. Der Realist Gustave Courbet war einer seiner Götter. Wie dieser war auch Balthus ein gegenständlicher Maler. Er folgte keiner Stilrichtung, was ihm den Vorwurf einbrachte, seine Kunst sei reaktionär. Dennoch erwarb der größte Maler des 20. Jahrhunderts, Pablo Picasso, eines seiner Werke. Balthus war belesen, Lewis Carrolls „Alice im Wunderland“ war ihm für manches Porträt Anregung. Auch das Katzen-Motiv hat einen Hintergrund: Mitsou war der Name der Mieze, die dem elfjährigen Balthasar entlaufen ist. Den Verlust betrauerte der begabte Junge in einer Bilderserie.

Kein Freund der Interpretation

Balthus war gegen jede Interpretation seiner Bilder. Gemessen an seiner langen Schaffensperiode hinterließ er ein schmales Werk von 350 Gemälden und 1600 Zeichnungen – er wollte sie, selbst die wunderbaren Landschaftsbilder, Intérieurs und Straßen-Szenen, wie Stillleben verstanden wissen. Balthus galt als exzentrisch und scheu. Das überspannte Selbstporträt „Le roi des chats“ (Der König der Katzen) von 1935, das in der Ausstellung zu sehen ist und ihn als Dandy zeigt, führt bewusst in die Irre. Balthus schützte sein Privatleben. Dazu passt auch folgende Episode: Als der Kunsthistoriker John Russell 1967 mit der Vorbereitung eines Katalogs zu einer Ausstellung in London begann, sagte der Maler zu ihm: „Sie fangen am besten an, indem Sie sagen: Balthus ist ein Maler, über den man nichts weiß. Und jetzt wollen wir uns seine Bilder ansehen.“