Alles begann mit der Liste einer Krankenschwester, die aufgeschrieben hat, was ihre Patienten kurz vor dem Tod am meisten bereut haben. Einige der Punkte sind erwartbar; zu viel Arbeit zum Beispiel, zu wenig Zeit für die Freunde. Umgehauen aber hat Oliver Wnuk dieser Aspekt: „Ich wünschte, ich hätte mir erlaubt, glücklicher zu sein.“ Wer oder was, fragte er sich, verbietet einem denn das Glück? Und was genau ist das Glück überhaupt?
Das Ergebnis dieser zunächst rein privaten Gedanken ist eine szenische Lesung mit dem Titel „Wnuk denkt laut: Der Sinn des Lebens in 20 Minuten“. Der gebürtige Konstanzer hat die Zuhörer damit unter anderem an der Friedrichshafener Zeppelin-Universität oder bei der Eröffnung des letztjährigen Bodenseeforums erfreut.
Diese Engagements sind nur auf den ersten Blick ungewöhnlich. Wnuk ist spätestens seit seiner Serienrolle in „Stromberg“ ein gefragter und populärer Schauspieler, und wer sich näher mit ihm beschäftigt, erkennt rasch, warum es ihm nicht genügt, Texte aufzusagen, die andere geschrieben haben: „Ich betrachte das Leben als Gestaltungsraum, und ich höre doch nicht auf, mir Gedanken zu machen, nur weil ich ein wichtiges Ziel – von der Schauspielerei leben zu können – erreicht habe.“ Seine Hörspiele oder sein auch im Konstanzer Stadttheater aufgeführtes Bühnensolo „Einfach nur Siggi“ sind bloß oberflächlich komisch, von seinen beiden Romanen „Wie im richtigen Film“ und „Luftholen“ ganz zu schweigen. Trotzdem ist es alles andere als selbstverständlich, dass ein Schauspieler eingeladen wird, beispielsweise beim Evangelischen Kirchentag über Empathie und Mitgefühl zu philosophieren.
Wnuk, der nach wie vor einen engen Bezug zu seiner Heimatstadt hat, räumt freimütig ein, dass er in der Tat keine Expertise für solche Themen besitze: „Ich habe weder ein entsprechendes Fach studiert noch musste ich das tiefe Tal einer schweren Krankheit durchschreiten.“ Anfangs hätten ihn die Veranstalter sicherlich in erster Linie als Schauspieler eingeladen, „weil man damit nichts falsch machen kann: Der erzählt ein paar Anekdoten aus dem Filmgeschäft, das ist immer unterhaltsam und eine sichere Bank.“ Der eine oder andere sei dann wohl auch ein bisschen perplex gewesen, „als der Wnuk plötzlich über ein Thema spricht, mit dem niemand gerechnet hat.“
Die meisten Schauspieler würden Wnuks Vorsatz, die Arbeit nach Möglichkeit mit einem gewissen Tiefgang zu versehen, ganz sicher unterschreiben. Dennoch kämen sicher nur die wenigsten auf die Idee, öffentlich über den Sinn des Lebens nachzudenken. Und manch’ einer ist insgeheim eben doch ganz zufrieden damit, Texte aufzusagen; schließlich gibt es genug andere, die nicht von ihrem Beruf leben können und sich mit Minijobs über Wasser halten. Wnuk bricht jedoch eine Lanze für die Kollegen: „Jeder will glücklich sein und frei von Leid, jeder stellt sich früher oder später die Frage nach dem Sinn des Lebens; aber es hat nun mal nicht jeder das Bedürfnis oder die Bewandnis, diese Gedanken öffentlich zu machen.“
Er widerspricht auch dem Filmbranchenklischee von einem Jahrmarkt der Eitelkeiten, der empfindlich reagiert, wenn einer aus der Reihe tanzt. Die Reaktionen aus dem Kollegenkreis seien ausschließlich positiver Natur, es gebe keinerlei schiefe Blicke, im Gegenteil, zumal viele Kollegen andere Wege gefunden hätten, um ihr künstlerisches oder intellektuelles Potenzial zu nutzen: „Die einen singen, die anderen schreiben Bücher oder studieren nebenbei.“ Wenn überhaupt, dann gebe es allenfalls Nebenwirkungen bei seiner eigenen Karriere: „Wenn man nicht dauernd in die selbe Kerbe haut, braucht man natürlich länger, um einen Baum zu fällen.“
Dass Wnuks Weg für ihn selbst der richtige ist, stellte er nach einem gemeinsamen Literaturabend mit Katrin Bauerfeind fest, als er anschließend Gedanken zu Themen wie Freundschaft, Liebe, Freude und Erfolg auf Facebook und Instagram veröffentlichte. In den sozialen Netzwerken lässt sich sofort erkennen, wie viele Menschen so etwas lesen. Normalerweise, sagt er, würden seine Texte von bis zu 5 000 Menschen wahrgenommen; plötzlich seien es über 200 000 gewesen. Er war zwar zunächst überrascht, dass die Texte einen derartigen Widerhall hatten, aber mittlerweile wundert er sich nicht mehr: Für ein Interviewbuch zum Thema Glück hat er Menschen mit unterschiedlichstem sozialem oder ökonomischen Hintergrund – „vom prominenten TV-Moderator über den erfolgreichen Finanzberater bis zur Drogeriefachangestellten“ – nach dem Sinn des Lebens gefragt und nahezu identische Antworten bekommen.
Kürzlich war Wnuk wieder mal in Konstanz. Er las aus seinem Roman „Luftholen“. In der Therme spielen große Teile des Buches. Die Lesung fand auf dem Panoramadeck statt; von dort aus hat man sämtliche Schauplätze im Blick. Wer Wnuk schon mal bei so einer Gelegenheit erlebt hat, der weiß, dass man keine Lesung im klassischen Sinn erwarten darf, weil er immer auch die Reaktionen des Publikums einbezieht; es sei denn, er spricht beim Kirchentag vor 55 000 Menschen darüber, wie durch tiefes Zuhören aus Empathie Mitgefühl werden kann. Dass er diese einmalige Chance bekommen hat, ist indirekt der im vorigen Jahr verstorbenen Moderatorin und Schauspielerin Miriam Pielhau zu verdanken.
Prominente werden häufig in TV-Spielshows eingeladen, und viele pflegen ihre Geldgewinne zu spenden. Pielhau hat ihre Gewinne stets der Deutschen Kindernothilfe überlassen, und im Andenken an die Kollegin tut Wnuk das seit ihrem Tod ebenfalls. Mittlerweile ist er auch Botschafter der gemeinnützigen Organisation, die ihn fragte, ob er in dieser Funktion beim Kirchentag auftreten wolle; am selben Tag wie Barack Obama und Angela Merkel. Das war selbst für den an Publikum gewöhnten Schauspieler ein ganz besonderer Moment: „Der Bereich war weiträumig abgesperrt, so dass ich vor dem Auftritt mutterseelenallein durch das Brandenburger Tor wandern konnte, wo es sonst von Touristen wimmelt; und dann steige ich eine kleine Treppe hoch und stehe vor einer Menschenmasse, die sich bis zur Siegessäule erstreckt.“
Bittet man Wnuk um eine Essenz seiner Gedanken, bleibt er die Antwort schuldig: „Mein Vortrag heißt ‚Der Sinn des Lebens in 20 Minuten’, und diese Zeit brauche ich auch; so erleuchtet bin ich noch nicht, dass ich das in einem Satz zusammenfassen könnte. Aber ich arbeite dran.“
Zur Person
Der gebürtige Konstanzer Oliver Wnuk (41) wurde bekannt durch Kinofilme wie „Anatomie“, „Der Schuh des Manitu“ und „Soloalbum“. 2004 hatte er seinen Durchbruch in der ProSieben-Serie „Stromberg“. Seither spielt er regelmäßig Hauptrollen in Kino- und Fernsehproduktionen; unter anderem gehört er zum Ensemble der ZDF-Krimireihe „Nord Nord Mord“. Nebenbei ist Wnuk auch Autor von Romanen, Bühnenstücken und Hörspielen. „Der Aufstieg und Fall des Siggi S.“ (2011) ist 2011 zum besten deutschen Mundarthörspiel des Jahres gekürt worden. Seit den Dreharbeiten zu „U-900“ (2007) ist der Schauspieler mit seiner Kollegin Yvonne Catterfeld liiert. Das Paar lebt in Berlin und hat einen gemeinsamen Sohn. (tpg)