Die Welt steht in Flammen, und der Bundestag beschäftigt sich mit Fähnchen. Diesen Eindruck muss gewinnen, wer die – nun ja: Debatte – im Vorfeld des Christopher-Street-Days am 26. Juli verfolgt hat. Erste Runde: Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU) lässt die Regenbogenfahne nur noch einmal im Jahr hissen, am 17. Mai, Tag gegen Homophobie.
Zweite Runde: Fraktionsmitglieder von Linkspartei und Grünen erscheinen trotzig in Regenbogenfarben. Dritte Runde: Der Kanzler trotzt zurück, der Bundestag sei „kein Zirkuszelt“. Vierte Runde: Große Empörung, er hat „Zirkuszelt“ gesagt! Bestimmt hält er queere Menschen für Clowns!
Man muss die Wortwahl des Kanzlers nicht für glücklich halten. Allein das aus diesem Anlass veranstaltete Bohei aber lässt den Schluss zu: Klöckner liegt richtig.
Schwere Diskriminierung erfahren
Schwule und Lesben haben in dieser Republik schwere Diskriminierung erfahren. Bis Mitte der 90er-Jahre galten sexuelle Handlungen zwischen Männern als strafbar, im Profifußball ist öffentliches Outing noch heute risikobehaftet. Und Achtung, unbequeme Wahrheit: Auch in manch migrantischem Milieu soll es erheblichen Nachholbedarf in Sachen Toleranz für gleichgeschlechtliche Paare geben.
Ja, es ist vor diesem Hintergrund vertretbar, wenn das Parlament ein gewandeltes Rechtsverständnis auch symbolisch zum Ausdruck bringt. Aber bitte zu gegebener Zeit, in angemessenem Umfang und ohne Zweifel an der Neutralität der Staatsorgane zu schüren.
Warum nicht auch für Frieden?
Was ist gegebene Zeit und angemessener Umfang? Manchen reicht es ja nie. Ginge es nach ihnen, wäre der Bundestag ganzjährig mit Symbolen beflaggt. Natürlich nur mit solchen, die ihrem persönlichen Weltbild entsprechen. Wenn schon Regenbogen, warum nicht auch die Fahne der Friedensbewegung? Der Bundestag wird doch wohl für Frieden sein! Und wenn wir schon beim Farbspektrum von Greenpeace sind: Sollten wir nicht auch das Klima retten – wenigstens so rein optisch?
Wo Moral im Überschuss vorhanden ist, braucht man nach Scheinheiligkeit nicht lange zu suchen. Im vorliegenden Fall offenbart sie sich am Schlagwort „Menschenrechte“. Um nichts weniger, finden die Grünen, gehe es schließlich, wenn unter den Farben des Regenbogens für sexuelle Selbstbestimmung gestritten wird. Und sobald es um Menschenrechte geht, sei es dem Staat gar nicht erlaubt, sich neutral zu verhalten!
Menschenrechte geht immer, was da drin steht, muss ja stimmen. Dass dieser beliebte rhetorische Kniff sich nicht etwa auf in Stein gemeißelte Gesetzestexte bezieht, sondern auf interpretationsbedürftige Grundsätze und Absichtserklärungen – welcher Bürger weiß das schon?
Neutraler Raum für offene Debatte
Die Wahrheit ist: Was genau wir hierzulande unter Geschlechtergerechtigkeit und sexueller Selbstbestimmung verstehen wollen, steht in keiner Charta geschrieben. Das müssen wir schon selbst aushandeln.
Sollte zum Beispiel demnächst einer Partei auffallen, dass die sogenannte „Ehe für alle“ ja gar nicht wirklich für alle gilt, und daraus die Forderung nach einer Öffnung für polygame Beziehungen erwachsen: Dann bräuchte es dafür eine Debatte ohne ideologische Vorfestlegungen. Das funktioniert aber nur in einem Parlamentsgebäude, das die gebotene Neutralität ausstrahlt.
Wähler haben Empörungstheater satt
Der Verdacht liegt nahe, dass im Fahnenstreit neben dem integren Anliegen einer Solidaritätsbekundung auch weniger ehrenwerte Motive die Empörung treiben. Denn wer Fahnen hisst, setzt damit einen Rahmen. Und je enger dieser Rahmen ausfällt, desto weniger Platz bleibt für lästige Argumente.
Immer mehr Wähler haben dieses ritualisierte Empörungstheater um missglückte Zirkuszelt-Metaphern und moralische Deutungshoheiten gehörig satt. Sie durchschauen die strategische Absicht hinter dem Furor. Den vom ungeahnten Höhenflug erfassten Abgeordneten der Linkspartei mag man ihren Glauben an den Erfolg dieses Modells noch verzeihen. Kaum verständlich ist, dass die Grünen noch immer nicht der Versuchung widerstehen. Manche lernen ihre Fehler erst bei Annäherung an die Fünf-Prozent-Hürde.