Ende der Neunzigerjahre findet das erste Southside-Festival der Geschichte statt, und der SÜDKURIER ist mit dabei. Das ist doch selbstverständlich? Ist es eben nicht. Denn als die Jungs von Bands wie „Blur“ und „Bush“ in die Saiten hauen, herrscht im Landkreis Tuttlingen tote Hose: Nicht in Neuhausen ob Eck steigt die Party, sondern weit weg auf einem ehemaligen Fliegerhorst bei München.
1999: In München vor Ort sind zwei junge Mitarbeiterinnen unserer Jugendseite. Sie berichten von einem „schönen Erlebnis“ bei Sonnenschein und toller Musik am ersten Tag. Aber auch von „Verwüstung, Matsch und Alkoholleichen“ in der letzten Nacht. Eine „Katastrophe pur“ sei das gewesen – vielleicht sind sie das Bild auch nur noch nicht gewohnt.
Dass das Southside nicht nur zum ersten, sondern auch zum letzten Mal in Bayerns Landeshauptstadt stattfindet, liegt jedenfalls nicht an den Alkoholleichen, sondern an Schockrocker Marilyn Manson. Mit provozierenden Gesten versetzt er das Münchner Publikum dermaßen in Rage, dass es die Bühne stürmt. Für die Stadt München ist das zu viel des Rock’n’Roll, weiteren Veranstaltungen dieser Art entzieht sie kurzerhand die Erlaubnis.
2000: So kommt es ein Jahr später zur eigentlichen Premiere: Das erste Mal Southside in unserer Region. Ein ehemaliges Flugplatzgelände nahe der Kreisstadt Tuttlingen macht es möglich. Was das bedeutet, zeigt sich früh: Nicht nur, dass die neue Heimat plötzlich in 800 Metern Höhe liegt – als Hochplateau ist sie vor allem besonders anfällig für Wetterextreme. „Es war einfach wahnsinnig kalt da oben“, sagt Norbert Faulhaber heute. „Ich weiß noch, wie ich mir deshalb vor Ort extra einen dicken Kapuzenpullover gekauft habe. Mit Ché Guevara vorne drauf – so war ich beim Auftritt der linken Politband Chumbawamba politisch korrekt gekleidet.“
Faulhaber ist einer von zwei SÜDKURIER-Redakteuren, die von den ersten Jahren aus eigener Erfahrung berichten können. Zusammen mit seinem Kollegen Philipp Zieger hat er keines der ersten Festivals in Neuhausen ob Eck verpasst. Und auch das ist nicht so selbstverständlich, bedenkt man, dass in diesen ersten Jahren von diesem Ereignis kaum jemand Notiz nehmen wollte.
„Es waren ja gerade mal 12.000 Leute da“, sagt Philipp Zieger: „Ich habe im Bühnengraben fotografiert und war da fast allein. Wenn ich daran denke, wie wir uns schon wenige Jahre später um die besten Plätze gestritten haben – unvorstellbar!“ Man habe sich ganz leicht verabreden können, fügt Faulhaber hinzu. „Du konntest sagen: Wir treffen uns um 15 Uhr – ohne exakte Ortsangabe – man konnte sich ja gar nicht verfehlen. Versuchen Sie das mal heute, bei einer Masse von 60.000 Menschen!“
2004: Zum ersten Mal ausverkauft ist das Southside erst im fünften Anlauf in Neuhausen. 40.000 Besucher müssen erfahren, dass der prominenteste Künstler aus ernstem Grund kurzfristig ausfällt. „David Bowie hatte am Tag zuvor noch auf dem Schwesterfestival Hurricane in Scheeßel gesungen“, erklärt Faulhaber. „Direkt nach dem Konzert erlitt er aber einen Herzinfarkt.“ Ein Schock? Gar nicht so sehr. Die Fans reagieren erstaunlich gelassen: „Bowie war das Idol einer älteren Generation, die meisten Besucher in Neuhausen waren erkennbar jünger. Die interessierten sich mehr für die Band Placebo.“
2006: Die Zuschauerzahlen stabilisieren sich mit der Zeit, das Wetter nicht. Mal ist es zu kalt, mal zu heiß. Und dann wieder beides zusammen. Als Philipp Zieger 2006 während eines Konzerts zufällig zum Himmel schaut, sieht er am Horizont einen Sturm aufziehen. „Das war wie eine schwarze Wand“, erinnert er sich: „Und als sie über uns hinwegfegte, haben alle sofort Schutz gesucht. Der Sturm rüttelte so heftig am Bühnenturm, dass eine riesige Box herunterkrachte: Ein Wunder, dass niemand verletzt wurde!“
Mit der Fußball-Weltmeisterschaft im eigenen Land beginnt auch das „Sommermärchen“. Beim Southside wehen plötzlich Deutschlandfahnen. „Das war ein sehr ungewohntes Bild“, sagt Faulhaber: „Wenn plötzlich sogar Punker schwarz-rot-goldene Haare tragen, dann merkst du, dass sich hier etwas gewaltig verändert hat!“ Für die Besucher stellt sich am Samstag die Gewissensfrage: Fußball oder Musik?
Ein skandinavischer Nachmittag wird es so oder so, entweder beim Achtelfinalspiel gegen die schwedische Nationalelf oder bei der Band „The Cardigans“ – auch sie kommt aus Schweden. Sängerin Nina Persson verkündet mitten im Konzert die Schreckensbotschaft. „Schweden führt zwei zu null!“, ruft sie. Schockstarre im Publikum. Erst allmählich macht die Nachricht die Runde: Persson hat geschwindelt. Es sind die deutschen Kicker, die hier führen.
2007: Die Wetterkapriolen münden bald in eine Katastrophe. Es ist der Sommer 2007, als bei den Aufbauarbeiten ein Gewittersturm die Helfer überrascht. Ein 28 Jahre alter Mitarbeiter der Johanniter-Unfallhilfe flüchtet in einen Einsatzwagen. Er soll sich als Falle entpuppen.
„In einem gerade erst aufgebauten Festzelt löste sich plötzlich ein Stahlträger“, berichtet Zieger: „Er stürzte geradewegs auf den Wagen.“ Der Mann erliegt seinen Verletzungen. Wie ein Schatten liegt der Vorfall über dem Festival: „Die Stimmung war ganz klar beeinträchtigt. Ich weiß noch, dass für die Familie dieses Helfers gesammelt wurde.“ Natürlich habe es auch kritische Fragen gegeben. Waren die Sicherheitsvorkehrungen ausreichend? Hat womöglich ein Beamter vom Zoll die Verankerung des Zelts verzögert? Gutachten werden in Auftrag gegeben, die Staatsanwaltschaft ermittelt. Erst nach Jahren steht fest: Niemand hat sich etwas zuschulden kommen lassen.

2011-2017: Drei Regenjahre in Folge verwandeln den Boden in einen Sumpf. „2011 war es eine gigantische Schlammschlacht“, sagt Faulhaber. „Unser Fotograf hat einmal aus Versehen seine Kamera fallen lassen – die war danach komplett hinüber. Zum Glück hatte er sie versichert.“ Die Veranstalter legen Plastikmatten aus und verstreuen Hackschnitzel. Doch bei 50.000 Besuchern lässt sich damit die Verschlammung nicht bekämpfen.
2016 muss das Southside im Kampf gegen das Wetter sogar endgültig kapitulieren: Als nach wenigen Bandauftritten ein schweres Unwetter ausbricht, ist an eine Fortsetzung nicht zu denken. 82 Menschen werden leicht verletzt, 25 werden ins Tuttlinger Krankenhaus gebracht.
Als 2017 alle auf die Wetterprognosen starren, kommt es in Manchester zu einem islamistisch motivierten Anschlag auf ein Rockkonzert. Binnen kürzester Zeit verdrängt die Terrorangst alle Furcht vor Blitz und Donner. Am Ende gibt es weder Anschlag noch Sturm, sondern ein Festivalwochenende bei schönstem Wetter: Southside von seiner Sonnenseite.
In der Rückschau sind es die Stürme und Tragödien, die am stärksten die Erinnerung prägen. Die Wahrheit ist, dass es auch ganz unspektakulär verlaufene Festivals gab. Dann konnte man erleben, wie sich mit dem Musikgeschmack auch ein Publikum wandelt. „Das Southside war in den ersten Jahren ganz klar von Rock- und Metal-Bands dominiert“, sagt Philipp Zieger: „Mit der Zeit entwickelte sich das immer mehr zur elektronischen Musik.“
Faulhaber sagt, die Musik sei immer unwichtiger geworden. „Früher war Southside eine fantastische Gelegenheit, neue Bands kennenzulernen. Heute geht der Trend ganz klar Richtung Partyfeiern.“ Sein Kollege sieht das anders. „Gefeiert und getrunken haben wir früher doch auch“, sagt er. Allerdings auf Isomatten und in Campingzelten. „Wenn ich heute auf das Angebot schaue, auf die Wohnareale mit wassergespülten Toiletten, Stromanschluss und WLAN inklusive: Von so was konnten wir damals nur träumen!“
Das Southside miterleben
Unsere Festivalreporter berichten vom 22. bis 24. Juni auf Instagram und Facebook direkt vom Southside. Einfach folgen und nichts mehr verpassen.