Nicht nur die Moral hält unseren Diskurs im Würgegriff, sondern auch die Geschichte. So verführerisch es vielen scheint, komplexe Konfliktlagen auf einfache Täter-Opfer-Verhältnisse zu reduzieren, so beliebt ist auch die Strategie, politische Gegner mit dem Ausrufen bloßer Jahreszahlen und Namen zu diskreditieren.
Das Jahr 1933 gilt dabei als höchster Trumpf, bezeichnet es doch die Machtergreifung der Nazis, also jenen Moment, dessen Wiederholung es um jeden Preis zu verhindern gilt. Und je nach Thema entscheidet der dazu passende Politikername im Nachschub gleich das ganze Spiel. „Denkt an Franz von Papen!“, „Wie damals Paul von Hindenburg!“, „Erinnert das nicht fatal an Heinrich Brüning?“
Der Vergleich hinkt
„Nein, es ist nicht 5 vor 1933“, stellt der Publizist Florian Illies in der Wochenzeitung „Die Zeit“ klar. Weder die aktuelle Problemlage noch das Bewusstsein der handelnden Akteure hielten einem Vergleich mit der damaligen Ausgangssituation wirklich Stand.
Wo einst ein verlorener Weltkrieg und eine globale Wirtschaftskrise Hungersnöte und Massenarbeitslosigkeit hervorbrachten, könnten wir uns heute den Luxus leisten, über Krankenversicherungsabgaben auf Kapitalerträge zu debattieren. Und während es damals für mögliche Kipppunkte in demokratischen Systemen schlicht keine Erfahrungswerte gab, stehe uns heute das historische Beispiel mahnend vor Augen.
Nun liegt der mögliche Widerspruch auf der Hand. Einerseits vor ständiger Instrumentalisierung von Geschichte warnen, andererseits ausgerechnet gewachsenes Geschichtsbewusstsein dafür als Argument anführen: Wie geht das denn zusammen? Hängt das eine nicht am anderen?
Die Antwort entspricht dem, was schon für die Moral gilt: Historische Daten und Fakten sind unverzichtbares Lehr- und Lernmaterial, als rhetorischer Vorschlaghammer für Denkfaule aber eignen sie sich nicht. Wer mit Geschichte argumentieren will, muss sich auch die Mühe machen, sie zu deuten.
Ist Scholz der neue Chamberlain?
So gibt es sehr gute Gründe, der Bundesregierung eine weitergehende Unterstützung der Ukraine abzuverlangen. Ein Vergleich von Bundeskanzler Olaf Scholz mit dem britischen Premier Neville Chamberlain – wie ihn Ex-Airbus-Chef Tom Enders anstellt – zählt nicht dazu.
Denn bei einer klischeefreien Betrachtung von dessen berüchtigter Appeasement-Politik gegenüber Hitler zeigen sich die Fallstricke solcher Analogien: Ob das Empire für entschlossenen Widerstand gegenüber dem Aggressor überhaupt die nötigen Mittel geschweige denn Bündnispartner und Rückhalt in der eigenen Bevölkerung hätte aufbringen können, ist umstritten. Verteidiger Chamberlains verweisen auf seine zeitgleich betriebene Aufrüstung der Streitkräfte, würdigen ihn als geschickten Taktierer um Zeit.
Auch gegen leichtfertig verliehene Machtoptionen für totalitäre Kräfte wie die AfD sind in der Fachliteratur gute Argumente leicht zu finden. Der Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller legt dar, warum die beliebte Vorstellung, man könne Populisten dadurch entzaubern, nicht funktioniert.
Selbst an der Macht verstehen sie es nämlich noch, sich als Opfer zu inszenieren. Die Verantwortung für eigenes Scheitern tragen dann vermeintlich gekaufte Gerichte, unterwanderte Medien oder ausländische Geheimdienste. Entsprechende Folgemaßnahmen lassen nicht lange auf sich warten: Erst geht es den Gerichten und Medien an den Kragen, am Ende folgt der Angriffskrieg. Braucht es da wacklige Vergleiche mit einer Zeit, lange vor so umwälzenden Entwicklungen wie Digitalisierung und Globalisierung?
Wer einfach nur „1933!“ ruft, diskreditiert Andersdenkende als historisch dumm, politisch naiv oder gar offen faschistisch. Er übersieht, dass eine neue Zeit manchmal andere Antworten erfordert, als solche, die einst mutmaßlich die richtigen gewesen wären. Auch wenn Geschichte sich wiederholt, verändert sie dabei zumindest ihr Gewand. Aus ihr zu lernen, bedeutet, ihre Variationen zu erkennen.