Ein guter Mensch, wer wär‘s nicht gern? Am Willen jedenfalls fehlt es nicht: Ermahnungen zu Umweltbewusstsein, Gendergerechtigkeit, Diskriminierungssensibilität und so weiter lauern an jeder Ecke, selten stand Moral höher im Kurs. Und doch geht es bergab mit der Gesellschaft, wachsen Hetze, Hass und Extremismus. Moral, so scheint es, ist eine Kraft, die stets das Gute will und Böses schafft.

Wer also wollte auf Erden nicht ein Paradies? Als Bettlerkönig Jonathan Peachum (Patrick O. Beck) auf dem Konstanzer Münsterplatz diese Fragen stellt, hat das Publikum bereits eine Idee von ihrer Antwort.

Es wimmelt in Bertolt Brechts „Dreigroschenoper“ ja nur von zwielichtigen Gestalten, von Huren, Verbrechern, Bettlern, korrupten Polizisten, windigen Geschäftemachern. Und doch wachsen sie uns ans Herz. Weil es eben nicht der Mensch ist, der diesen Abgrund will. Sondern seine Verhältnisse, seine Wirtschaft, sein politisches System.

Unter den Augen der Jungfrau Maria

Regisseurin Christina Rast hatte schon vor zwei Jahren die Inszenierung zum Konstanzer Sommertheater besorgt, und es sieht so aus, als habe man vergessen, das Bühnenbild abzuräumen. Schon wieder steht da diese übergroße Muttergottes vor dem Münster. Auch diesmal wieder „Salvator Mundi“, Leonardo da Vinci zugeschriebenes Jesus-Porträt. Sie passen wohl einfach zu gut in eine Welt, die uns ständig zur Moral ermahnen muss, weil sie selbst nur deren Gegenteil produziert.

Unter den Augen der Muttergottes schaffen Macheaths Bandenbrüder (Anne Rohde, Kristina Lotta Kahlert, Jonas Pätzold und Thomas Fritz ...
Unter den Augen der Muttergottes schaffen Macheaths Bandenbrüder (Anne Rohde, Kristina Lotta Kahlert, Jonas Pätzold und Thomas Fritz Jung, v.l.n.r.) schon mal wichtige Akten zur Seite. | Bild: Ilja Meß / Theater Konstanz

Das Personal: weiße Hemden, weiße Gesichter, eine Armee des Alltags. Mit Schildern tragen sie ihre Gesinnung auf die Bühne. „Gegen Rassismus!“ Ja, da brandet Beifall auf. „Ich bin so wütend, ich habe sogar ein Schild dabei!“ Nun ja. „Ich!“ Da klatscht keiner mehr.

Viel sollte man auf solche Parolen ohnehin nicht geben. In Peachums Firma für Bettler-Zubehör bekommen wir die wahren Motive solcher öffentlichen Inszenierungen zu Gesicht. Einem Nachwuchstalent (Anne Rohde) erteilt der Chef dort gerade Bettelunterricht: In den Sumpf der Großstadt sei er geraten? Zeigen müsse er doch diesen Sumpf, mit ausladenden Gesten! Als Ausstattung bekommt der Anfänger die Kluft eines verarmten Passanten ausgehändigt. Schließlich gilt: „Sein eigenes Elend glaubt einem niemand“.

Weiß ist die dominierende Farbe bei Ausstattung und Maske zur „Dreigroschenoper“.
Weiß ist die dominierende Farbe bei Ausstattung und Maske zur „Dreigroschenoper“. | Bild: Ilja Meß / Theater Konstanz

Seine Tochter Polly (Lilian Prent) ist derweil schon unterwegs ins Eheglück. Ganz naiv hat sie sich dem Bandenchef Macheath (Jasper Diedrichsen) an den Hals geworfen, die Hochzeitsfeier steigt in einem aufgebrochenen Pferdestall, der eher nach Bauwagen aussieht (Bühne: Franziska Rast).

Naives Handeln bedeutet nicht naives Sein, statt eines romantisch verzückten Mäuschens schreitet da eine Frau zur Tat, die genau weiß, was sie tut. Lauter sich ehrenwert gebende Männer habe sie schon abblitzen lassen, singt sie. Aber dann kam einer, der kein Geld hat, nicht nett ist und ohne Manieren auskommt: „Zu ihm sagte ich nicht nein!“ Moral ist anständig, Glaubwürdigkeit aber sexy.

Der Autor

Noch ein gutes Jahr dauert es, dann wird Brechts Werk gemeinfrei. Dass seine Erben hohen Wert auf Werktreue legen und gerne mal gegen allzu freizügige Inszenierungen vorgehen, bleibt für die Theaterregie bis dahin ein Problem. Rasts Ansatz einer uniformen Masse an Personen, gleich an Kostümen, Maske und sogar im Ausdruck, ist gewagt.

Nicht individuelle Typen kreieren das System, will sie uns damit wohl sagen, sondern im Gegenteil: Erst das System kreiert das Individuum. Das ist so logisch wie nachvollziehbar, bedeutet aber eben auch, dass es auf der Bühne nun an Typen fehlt. An starken, abgründigen Charakteren also, die ganz von selbst diesen Abend reißen könnten. Vor allem längere Szenen geraten dabei ins Trudeln, über manche Strecke sickert das Gift der Langeweile ein.

Energie vom Dirigentenpult

Das ganze Vorhaben wäre zum Scheitern verurteilt, gäbe es da nicht auf der rechten Seite eine kleine Konzertbühne mit Kronleuchter. Acht Musiker der Bodensee-Philharmonie sorgen darauf für die musikalische Begleitung, als Dirigent wirkt der Chef, Gabriel Venzago, persönlich. Und welche Energie von diesem Pult auf den ganzen Platz ausstrahlt, ist bemerkenswert. Selten hat man Kurt Weills Songs so klangschön und filigran gehört. Bühnenmusik als sinnlich sinnhafter Kitt, der bindet, was sonst auseinanderfiele.

Mit acht Musikern ist auch die Bodensee-Philharmonie vertreten.
Mit acht Musikern ist auch die Bodensee-Philharmonie vertreten. | Bild: Ilja Meß / Theater Konstanz

Ist es wirklich nur die Musik? Jedenfalls zeigt sich im zweiten Teil plötzlich ein ganz anderes Verständnis von Tempo und Timing. Wenn Macheath von den wohlfeilen moralischen Belehrungen der besseren Gesellschaft singt, seine Bande ihm als weißer Chor zur Seite springt und von rechts auf einmal Venzago wutentbrannt ins Publikum brüllt: „Wovon lebt der Mensch?“ Ja, dann geht dieses anspruchsvolle Konzept plötzlich doch noch auf.

Dann zeigt sich, welch fatales Wechselverhältnis zwischen Moral und Aufrichtigkeit besteht: Je höher der moralische Anspruch, je mehr Weihrauch ums eigene Haupt, desto verlogener wird die ganze Sache. Wer gelegentlich mit den gehobenen Kreisen selbsterklärter Kulturbildungsbürger zu tun hat, kennt dieses Phänomen. Bei Brecht erweist sich am Ende ausgerechnet der Polizeichef als unehrlichste Figur der ganzen Stadt. Der Schwerverbrecher dagegen erfreut mit Klartext: „Wie ihr es immer dreht und wie ihr‘s immer schiebt, erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.“

Machheath (Jasper Diederichsen, Mitte) ist schon hinter Gittern, doch der Wächter schläft. Sollte ihm die Flucht gelingen?
Machheath (Jasper Diederichsen, Mitte) ist schon hinter Gittern, doch der Wächter schläft. Sollte ihm die Flucht gelingen? | Bild: Ilja Meß / Theater Konstanz

Sogar manche zurückhaltende Charakterzeichnung findet jetzt ihre Erklärung. Jasper Diederichsen etwa gibt zwar statt des mordlüsternen Straßengangsters eher einen braven Soziologiestudenten. Kurz vor seiner geplanten Hinrichtung zeigt sich aber: Es ist ja auch nicht der Mensch, der über seine Identität entscheidet. Es ist die Welt. Und so bittet er alle um Verzeihung: seine Opfer, seine Komplizen, seine Gegner, ja, sogar die verlogenen „Polizistenhunde“, auch wenn es ihm bei denen besonders schwer fällt.

Bettler-Chef Peachum (Patrick O. Beck, l.) stattet Machheath (Jasper Diederichsen, r.) noch einen letzten Besuch ab – zur Henkersmahlzeit.
Bettler-Chef Peachum (Patrick O. Beck, l.) stattet Machheath (Jasper Diederichsen, r.) noch einen letzten Besuch ab – zur Henkersmahlzeit. | Bild: Ilja Meß / Theater Konstanz

Neben Diederichsen gefallen an diesem Abend vor allem Lilian Prent als trotzige Tochter und selbstbewusste Ehefrau sowie Michaela Allendorf als stets leicht ausgeflippte Unternehmergattin. Der Star dieser Produktion aber trägt einen Taktstock: Dass Gabriel Venzago für das Konstanzer Orchester und damit auch die ganze Stadt ein Glückfall ist, wurde einmal mehr bewiesen.

Kommende Vorstellungen: am 14., 17., 20. bis 22., 24. und 25. sowie 27. bis 29. Juni. Das Münsterplatztheater findet auch danach fast täglich statt, letzte Vorstellung ist am 27. Juli. Weitere Informationen: www.theaterkonstanz.de