Peter Wex

Wer an den Hörsälen und Seminaren vorbeigeht, kann den Eindruck gewinnen, den Lehrenden und Lernenden in Deutschland sei Hausverbot erteilt worden. Gähnende Leere überall.

Das vierte Semester in Folge naht, aber die meisten Hochschulen praktizieren noch im September 2021 weiterhin mit Fernunterricht als Online-Veranstaltung. Geplant für den Winter ist ein Betrieb mit möglichst viel Präsenz auf dem Campus, die konkrete Ausgestaltung und Kontrolle der Lehrveranstaltungen im nahenden Wintersemester erscheinen ungewiss und kompliziert. Allenfalls Stichproben dürften greifen, so die FU Berlin, man würde lieber den Wachschutz kontrollieren lassen. Oder Mitarbeiter sollen freiwillig kontrollieren, wer geimpft, genesen oder getestet ist, so bis auf Weiteres die Universität Konstanz. Das arme Aufsichtspersonal, ein reiches Feld für die Prüfungsjuristen.

Mittlerweile sind über 80 Prozent der Studierenden voll geimpft. Aber kein Streik, kein Aufbegehren zur Herstellung des Präsenzunterrichts ist in Sicht. Was jeder Reiseveranstalter und Fußballclub schafft, nämlich die Nutzung der Einrichtung unter Hygienestandards, das findet in den Hochschulen nicht statt. Dabei fehlt es nicht an Vorkehrungen. So hatte die FU Berlin schon im Wintersemester 2020 akkurat die Hörsäle und Seminarräume mit flatternden und festgeklebten Bändern für die Sitzabstände markiert. Allein weder die Studierenden noch die Lehrenden ließen sich blicken.

Peter Wex leitete zuletzt an der Freien Universität Berlin die Arbeitsstelle Bildungsrecht und Hochschulentwicklung.
Peter Wex leitete zuletzt an der Freien Universität Berlin die Arbeitsstelle Bildungsrecht und Hochschulentwicklung. | Bild: privat

Wie ist das zu erklären? Weder die Angst vor Ansteckungen noch fehlende finanzielle Mittel liefern überzeugende Antworten. Überwiegen vielleicht sogar die Vorteile des lockeren Homeoffice-Lernens mit freier Zeiteinteilung? Professoren sind verstummt und vertieft wie in einer Online-Dunkelkammer. Die Hochschulrektorenkonferenz mahnt, kaum hörbar, die Rückkehr zur Präsenz an. Neue Prüfungsformate seien zu diskutieren (!). Die Studierenden richten sich, ganz praktisch orientiert, in einen Ablauf ein, der die Grenzen zwischen Studium und Freizeit fließend erscheinen lässt. Das Internet vergisst ja nichts. Fühlen sie sich wirklich wohl dabei? Einige Erhebungen fördern zutage, dass gerade die jüngeren Semester die Kommunikation vermissen. Die Einrichtung Universität als Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden kennen sie nur vom Hörensagen.

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Daher umso dringlicher die Frage: Warum führen die Hochschullehrer ihren Unterricht nicht längst in kleinen Gruppen durch, unter Wahrung aller Hygienestandards? Warum können bei guten Bedingungen nicht zusätzlich Veranstaltungen unter freiem Himmel stattfinden, in der Mensa, in den Sportstätten und allen geeigneten Räumlichkeiten auf dem Campus? Es schleicht sich das ungute Gefühl ein, dass diese zusätzlichen Anstrengungen unterbleiben, weil sie eben anstrengend sind.

Homeoffice, das zeigen Ergebnisse aus anderen Berufsfeldern, kann zu einem größeren Einsatz der Fleißigen führen. Stichwort: immer im Einsatz. Für die gemächlicheren Zeitgenossen kann Homeoffice aber als angenehme Gelegenheit benutzt werden, auch die Freizeit ernst zu nehmen, abgesichert durch sehr flexible Kontrollen. Wenn die Hochschullehrer jetzt, routiniert in ihrem Online-Unterricht und befreit von der Präsenz am Hochschulort, sich in das vierte Corona-Semester verlinken, könnte und müsste die Wissenschaft eigentlich profitieren. Mehr Zeit für Forschung, mehr Zeit für Veröffentlichungen?

Wissen und Kompetenzen

Die fehlende Begegnung zwischen Lehrenden und Studierenden führt zu einer gravierend anderen Problematik, nämlich dem Ablauf des Prüfungsgeschehens. Die Kernfrage lautet: Wie erwerben die Studierenden in den Coronazeiten Kompetenzen? Hochschulen sind in ihrem Grundverständnis auf Präsenzunterricht ausgerichtet. Den Gegensatz bilden Fernuniversitäten. Dementsprechend werden heute unter dem Regime der Bolognavorgaben die Prüfungen als Ergebnisse der Lernbemühungen dokumentiert, mit denen Wissen und Kompetenzen nachzuweisen sind. Funktioniert das bei den Online-Prüfungen auf der Grundlage der Modulstrukturen?

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Auf der Homepage der FU Berlin als einer der führenden Exzellenzuniversitäten wird vorgegeben, dass die Prüfungen grundsätzlich nur in „Distanzprüfungsformaten“ durchgeführt werden: mündliche Prüfungen als Videokonferenz, Klausuren als „häusliche Klausur“, als digitale Prüfung oder als Hausarbeit. Fleißig bescheinigen die Professoren unverändert, der Student X und die Studentin Y hätten neben dem Fachwissen auch die Sozialkompetenz, die Methoden und die personale Kompetenz erworben. Modul für Modul, Semester für Semester, als hätten die Professoren den Studenten leibhaftig gesehen und sich ein Bild gemacht über dessen Fähigkeit, komplexe Anforderungen in spezifischen Situationen bewältigen zu können.

Das Geschehen in Videokonferenzen kann aber nur begrenzt als Beurteilungsgrundlage dienen. Die Reaktionen auf Fragen vermitteln häufig ein unsicheres Bild. Ganz abgesehen von den Vorwürfen, bei den Antworten zuhause werde nicht selten getäuscht.

Wann gibt es andere Prüfungsformate?

Welche Kompetenzen prüft der Hochschullehrer eigentlich im digitalen Erwerb? Wie bisher, als Altlast, mit außer Acht gelassener Handlungsfähigkeit nur das Fachwissen oder sind jetzt andere Fähigkeiten signifikant und zu lernen: Reaktionseigenheiten im Internet, neue Kommunikationsstrukturen, erweiterte Formen und Beurteilungen der Wissensaneignung sowie komplexe Einsichtsfähigkeit in Fakten und Meinungen? Wenn diese neuen „Skills“ nur ansatzweise als wichtig einzuordnen sind: Wann endlich ändern die Fachbereiche die diesbezüglichen Studieninhalte und Prüfungsformate?

Ein verlassener Hörsaal der Otto-von-Guericke-Universität in Magdeburg. Die meisten Hochschulen praktizieren noch im Fernunterricht, ...
Ein verlassener Hörsaal der Otto-von-Guericke-Universität in Magdeburg. Die meisten Hochschulen praktizieren noch im Fernunterricht, dabei wären Präsenzveranstaltung schon längst wieder möglich gewesen, meint zumindest Bildungsforscher Peter Wex. | Bild: Klaus-Dietmar Gabbert, dpa

Wen der Zustand der Universitäten im Allgemeinen und die Modulkraft im Besonderen wenig stört, der mag weiter ruhen. Wer sich aber vor Augen hält, dass Deutschlands Stärke von dem Wissen und der Bildung auch der gegenwärtigen, digital geprägten Generation abhängt, der schaut besorgt in die leeren Hörsäle.

Für alle Studienanfänger seit Beginn der Corona-Pandemie ist mit dem nahenden Wintersemester 2021/22 die Hälfte des Studiums vorbei. Nach kommunikationsarmer Heimarbeit ist es überfällig, dass sich die Professoren mit ihren Studierenden treffen, unter Hygienestandards. Vorzugsweise auch nachmittags und an Sonnabenden. Auch mit Teilzeitangeboten, die weiterhin sträflich vernachlässigt werden. Was jeder Konzertveranstalter und jeder Restaurantbetreiber schafft, jeder Fußballkicker und jeder Mallorca–Besucher, das sollte nicht gelingen in der Wissenschaftseinrichtung Hochschule?