Die Stücke fangen an diesem Abend harmlos an. Michael Wollny sucht sich einen Ton in der Mitte der Klaviatur aus, spielt und wiederholt ihn. Dann kommt die andere Hand dazu, sie ergänzt Intervalle, die Hände wandern auseinander bis zur vollen Spannweite der beiden Arme. Der Rhythmus wird komplizierter, das Geflecht aus Tönen dichter. Wollny langt zu, sein Klanggebäude steigert sich zur Lautstärke.
Als ob das nicht genug wäre, steigt jetzt sein Kollege Emile Parisien am Saxofon ein. Auch er ein glänzender Techniker. Das Duo zieht seine Schleifen, das Ganze mündet in hinreißende Musik, die zwischen Romantik, Free Jazz und Blues ansiedelt – wenn man denn Worte für das musikalische Geschehen sucht.
Wollny, gerade 47 geworden, spielt noch immer wie ein junger Wilder. Das Bodensee Festival hat ihn zum Artist in Residence ernannt, das heißt: Während des Festivals und zur schönen Maienzeit wohnt er am Bodensee. Dabei gibt er fünf Konzerte an verschiedenen Orten. Dass ihm Allensbach besonders liegt, spürt man schon nach wenigen Akkorden.
In der Gnadenkirche – dem heimlichen Musikzentrum zwischen Höri und Bodanrück – betritt er bereits zum fünften Mal das Podium. Wollny und Parisien huschen aus der Sakristei und begeben sich an ihre Instrumente, ohne Allüren und die sonst üblichen Phrasen. Die beiden haben auch keinen Grund, das Publikum mit faden Tourneewitzen zu unterhalten. Sie kommen schnell zur Sache und tun, was sie am besten können: Sie improvisieren, was das Zeug hält.
Wie einer, der auf einem Fahrrad balanciert
Wenn die 88 Tasten des gut aufgelegten Flügels nicht reichen, steht der Musiker auf und greift direkt in die Saiten. Das ist eine Marotte, die der Free Jazz hinterlassen hat. Sie bringt klanglich wenig, zeigt aber: Der Musiker springt über die Grenzen, die ihm das Instrument auferlegt.
Wollnys Stil passt gut zum aktuellen Motto des Bodensee-Festivals. Es steht unter dem Motto „Freiheit“. Doch ist auch die Freiheit des Pianisten nicht grenzenlos. Auf dem Steinway-Flügel hat er ein kleines Tablet abgelegt. Dort stehen wenige Noten und Akkorde. Das ist das Gerüst, auf das er seine Musik stellt. Das Gerüst ist minimal, der Aufbau filigran bis grandios. Er spielt wie einer, der auf einem Fahrrad eine Kathedrale balanciert, ohne umzufallen.

Der Franke spielte wie entfesselt. Wie alle guten Jazzer weiß er um seine Wurzeln. Der aus der DDR stammende Pianist Joachim Kühn mit seinem wilden Spiel ist einer von Wollnys Gewährsleuten. Er zitiert Kühn auch, er verbeugt sich vor dem großen Vorbild. Auch das ist Größe: Herkunft benennen, Traditionen aufnehmen und fortspinnen. Von nichts kommt nichts, das gilt im Jazz mehr denn anderswo.
Kann man das freie Spiel lernen? „Improvisation ist wie Sprechen. Aber eine Neigung braucht man schon “, sagt Wollny nach dem Konzert. Er fing schon als Kind mit dieser Art des Sprechens an, indem er einfache Melodien nachspielte. – Die Zuhörer in Allensbach waren hingerissen. Erst eine Zugabe, dann noch eine.