Georg Leisten

Bei den Buchungsportalen ist derzeit kaum etwas begehrter: Sonne vor dem Fenster, Salzgeruch in der Nase, Wellenschlagen im Ohr – aber in den eigenen vier Wänden. Im Pandemiesommer 2020 stechen Ferienhäuser alle anderen touristischen Unterkunftsangebote aus. Immerhin garantiert das private Interimsheim eine Einsamkeit und damit Virenfreiheit, die kein Hotel, keine Apartmentanlage und kein Campingplatz zu bieten hat.

Bescheidene Strandbaracke

Dabei schien sie zuletzt fast schon aus der Mode gekommen, die bescheidene Strandbaracke, in der einem keiner ein Frühstücksbüfett mit zwölf Sorten Marmelade aufbaut. Wer was auf sich hielt, bevorzugte bis vor Kurzem eher exklusive Fünf-Sterne-Tempel, angeschlossenen Golfplatz und Pool-Landschaften, die gefühlt größer sind als das Saarland.

In die moderne Literatur dagegen hat sich das Ferienhaus als Mythos eingeschrieben. Nicht nur, weil zahlreiche berühmte Schriftsteller die Sommerfrische in einem individuellen Anwesen verbrachten. Thomas Mann etwa ließ sich auf der Kurischen Nehrung eine stilvolle Urlaubsresidenz bauen, Bert Brecht besaß im brandenburgischen Buckow ein lyrisch verewigtes Refugium mit Seeblick und Norman Mailer genoss die wärmste Jahreszeit auf Cape Cod, wo auch der Hauptsitz des Kennedy-Clans lag.

Thomas Manns Haus auf der Kurischen Nehrung.
Thomas Manns Haus auf der Kurischen Nehrung. | Bild: Heuse

Lieber noch als an diese Dichterorte erinnert sich der Freizeitleser an fiktive Ferienhäuser. Einige der wunderbarsten Sommergeschichten des letzten Jahrhunderts verdanken ihnen ihren atmosphärischen Charme. So etwa jene hinter Pinien versteckte Villa, in der Françoise Sagan ihr jugendliches Meisterwerk „Bonjour tristesse“ ansiedelte.

Von den Klippen führt ein kleiner Pfad hinab in eine stille Bucht. Cécile, 17 Jahre jung, verbringt hier mit ihrem Vater den Sommer. Den interessieren weder der schulische Lerneifer noch der Alkoholkonsum noch das Liebesleben des verwöhnten Töchterchens. Gleich bei Erscheinen 1954 wurde das Buch zum Skandalerfolg, ebenso wie ein paar Jahre darauf die Verfilmung mit der niedlich-frechen Jean Seberg.

Céciles Strandbekanntschaft

Cécile verkörpert die Jeunesse dorée der Pariser Nachkriegszeit, die sich sorglos am wiedererlangten Wohlstand freut. Doch zwischen Baden im Meer, heißen Nachmittagen und lauen Nächten schwebt über dem Haus mit den kühlen Fliesen vor allem eins: Melancholie. Aus Langeweile verliebt sich Cécile in eine Strandbekanntschaft, aus Langeweile wird sie zum Miststück. Cécile beschließt, die beiden Geliebten ihres Playboy-Papas gegeneinander auszuspielen. So nimmt die Coming-of-Age-Geschichte, die mit mediterraner Leichtigkeit begann, ein tragisches Ende.

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Sagan ist nicht die einzige, die das Ferienhaus zur Kulisse des Erwachsenwerdens gemacht hat. „Im Sommer 1963 verliebte ich mich, und mein Vater ertrank.“ Mit diesem lakonischen Nebeneinander von Schönheit und Schrecken eröffnet Charles Simmons seinen Kurzroman „Salzwasser“.

Der 15-jährige Michael fährt mit seinen Eltern an die neuenglische Küste. Schon kurz nach der Ankunft zieht über das in den Dünen liegende Feriendomizil der Familie ein Sturm auf, der Sturm der Erotik. Die fünf Jahre ältere Sommerhausnachbarin Sina bringt Michaels Teenagerherz aus dem Takt. Dem verstellen die hochschießenden Hormone leider den Blick auf die Tatsache, dass Sina sich zu einem reiferen Mann hingezogen fühlt. Als bei dem armen Michael dann doch die Jalousien hochgehen, nimmt der Badespaß ein jähes Ende und ein fataler Vater-Sohn-Konflikt bricht aus.

Psychologischer Brutkasten

Im vielfigurigen Kosmos eines Hotels hätten familiäre Sommerdramen, wie Sagan und Simmons sie konstruieren, kaum den passenden literarischen Echoraum gefunden. Die Ruhe unter dem isolierten Dach eines Ferienhäuschens dagegen erweist sich als wahres Gefühlsbiotop, als psychologischer Brutkasten, in dem wilde, wirre und böse Gedanken nur umso schneller heranreifen.

Man könnte eine ganze Literaturgeschichte des Ferienhauses schreiben, einschließlich seiner Kompromissvariante für Durchschnittsverdiener, der Ferienwohnung. In einer solchen pflegt etwa das Ehepaar aus Martin Walsers Bodensee-Novelle vom „Fliehenden Pferd“ allsommerlich seine Mittelklasse-Rituale.

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In Judith Hermanns „Sommerhaus, später“ (1998) schließlich wird nur noch ein kleineres Binnengewässer erwähnt, das keine tragende Rolle mehr spielt. Die Titelerzählung des gleichnamigen Sammelbandes, mit dem die Autorin über Nacht zur Literaturikone der Prenzlauer-Berg-Szene aufstieg, ist strenggenommen gar keine Sommergeschichte mehr.

Landhaus im Berliner Umland

Im Dezember erhält die Ich-Erzählerin einen Anruf von einem Mann. Vor einiger Zeit hatte sie eine kurze Affäre mit dem obdachlosen Taxifahrer, der öfter bei Frauen aus der gemeinsamen Clique schläft. Gerade hat er sich ein Landhaus im Berliner Umland gekauft. Er will es der Freundin von früher zeigen. Doch am Ende geht der hausgewordene Traum vom Sommerglück eines prekären Lebens in Flammen auf. Alle coronabedingt Daheimgebliebenen, die den Text heute lesen oder wiederlesen, werden ihre eigene Stimmung darin wiederfinden.