Vor den Toren von Tunis liegt der düsterste Ort in ganz Nordafrika. Noch im hellsten Mittagssonnenlicht schwebt über dem verwitterten Stelenfeld jene unheilvolle Atmosphäre, mit der Horrorfilme beginnen. Tophet heißt die hinter einer Mauer verborgene Nekropole, in der Archäologen Hunderte Urnen mit Kinderskeletten aus der Zeit Karthagos entdeckten.
Abstoßendes Ritual
Lange galten die Funde als Beleg für ein abstoßendes Ritual der Punier: Zu Ehren des Gottes Baal soll das antike Seefahrervolk Neugeborene geopfert haben. Was der römische Historiograph Plutarch nüchtern faktisch festhielt, hat Gustave Flauberts Historienroman „Salammbô“ in finster flackernden Sätzen ausgemalt.
Vor einigen Jahren haben Wissenschaftler die erhaltenen Gebeine des Tophets nun erneut unter die forensische Lupe genommen. Und siehe da, bei einem Fünftel der Kinder handelt es sich um Totgeburten, die für Opferpraktiken gar nicht infrage gekommen wären. Auch die restlichen Gebeine wiesen keine Spuren von Gewalt auf. Der Tophet war ein gewöhnlicher Kinderfriedhof, keine archaische Blutstätte.
Eine Rufmordkampagne
Dass Hannibals Landsleute ihre erstgeborenen Knaben ins Feuer warfen, ist damit zwar nicht endgültig widerlegt, doch die meisten Forscher halten solche Überlieferungen mittlerweile für eine Rufmordkampagne. Sind es doch ausschließlich lateinische Quellen, die über die grausamen Tribute der Karthager berichteten. Die Autoren wollten Roms Gegner aus den punischen Kriegen durch Fake News ins schlechtmöglichste Licht stellen.

Babyfresser sind immer die anderen – mit dieser Propagandakeule werden seit Jahrtausenden Kämpfe um Meinungshoheit ausgetragen. Man denke an einen PR-Klassiker wie die „Brutkastenlüge“. Irakische Soldaten, so die Behauptung, hätten im Golfkrieg kuwaitische Frühgeborene aus ihren Brutkästen gerissen und sterben lassen.
Das aktuellste Beispiel für den Versuch, krude Kindermord-Theorien zu verbreiten, ist die QAnon-Bewegung. Seit der Pandemie erlebt sie verstärkt Zulauf, sogar Donald Trump äußerte sich anerkennend: „Ich habe gehört, dass es Leute sind, die unser Land lieben.“
Kinder für korrupte Elite?
QAnon glaubt an den „Deep State“, den Staat im Staate. Das Unterwanderungsmärchen basiert auf der Annahme, eine korrupte Elite entführe Kinder, um sie in Geheimgefängnissen sexuell zu missbrauchen. Später hat die Online-Sekte ihren Ursprungsmythos erweitert: Demnach tötet man die Kinder, weil sich aus ihrem Blut das Verjüngungsmittel Adrenochrom gewinnen lasse. Als dessen Konsumenten werden etwa Bill Gates oder Joe Biden gehandelt.
Ein auf Kosten der Jüngsten gewonnenes Jugendelixier für mächtige alte Männer – die vampiristische Kolportage erneuert unter Bedingungen der Biowissenschaft eine alte Legende von rituellen Kindstötungen. In seiner mittelalterlichen Variante hat dieses Phantasma den Antisemitismus angestachelt.
1144 kam im englischen Norwich ein Junge unter ungeklärten Umständen ums Leben. Wütende Christen beschuldigten jüdische Nachbarn, ihn zu Tode gefoltert zu haben. Das Gerücht wuchs sich zur Verschwörungstheorie aus. Bald galten Juden in ganz Europa als Satanisten, die für jedes vermisste Kind verantwortlich gemacht wurden. Meist hieß es, die Opfer würden zur Verhöhnung Christi gekreuzigt und ihr Blut getrunken, um daraus magische Kraft zu schöpfen.
„Sehr reich, sehr mächtig“
Auch moderne Verschwörungsideologen führen gern rätselhafte Kriminalfälle zur Bestätigung ihrer Thesen an. Sido zum Beispiel: In einem Interview spekulierte der Deutschrapper über die in Portugal vermisste Madeleine McCann. „Sehr reiche, sehr mächtige“ Leute steckten dahinter. Sido nannte sogar Namen: die Rothschilds, eine jüdische Bankiersfamilie.

Warum verfangen grobmaschig gestrickte Lügenerzählungen immer wieder? Dass soziale Netzwerke konspirative Hirngespinste beschleunigen, wissen Medienwissenschaftler seit Längerem. Doch nichts mobilisiert den Volkszorn schneller als die Tötung der Kleinsten. Schon Fritz Langs Film „M“ führte vor, welche Eigendynamik die Jagd nach einem Kindsmörder annimmt.
Narrativ für Homophobie
Deswegen lässt sich die Empörung über Gewalt gegen Kinder leicht für die Hetze gegen ganz andere Adressaten missbrauchen. Xavier Naidoo, der ebenfalls QAnon-Inhalte teilt, nutzte das Kindermord-Narrativ bereits 2012 für einen schwulenfeindlichen Song. „Ihr tötet Kinder und Föten und ich zerquetsch euch die Klöten“, drohte der Mannheimer gemeinsam mit dem Rapper Kool Savas auf einem Zusatztrack des Albums „Gespaltene Persönlichkeit“.

Das Abschlachten von Säuglingen ist das schwerste und älteste Kollektivtrauma westlicher Zivilisationen. Der (historisch fragwürdige) Kindermord von Bethlehem hat es tief ins kulturelle Unterbewusstsein gebrannt. Bildliche Darstellungen der Bibelepisode und ihre Echos in Literatur und Film halten die Erinnerung daran wach.
Noch in der Erfolgsserie „Game of Thrones“ befiehlt der Jungkönig Joffrey, alle unehelichen Kinder seines zeugungsfreudigen Vorgängers zu töten, um mögliche Thronerben zu beseitigen. Dass es sich dabei um Fantasy handelt, tut dem Transfer in die Wirklichkeit keinen Abbruch. Es bestärkt noch das Gefühl der Verschwörungsgläubigen, auf der richtigen Seite zu stehen. Als einsame Helden im Kampf gegen finstere Mächte aus der Tiefe des Staates.