Das Wesen Berlins offenbart sich gleich bei der Ankunft. Der Reisende steigt im Hauptbahnhof meist ganz unten oder ganz oben aus. Schon der erste Atemzug saugt die Berliner Luft ein, von der es mal hieß, sie sei ein ganz besonderer Duft. Irgendwie schmeckt sie nach Freiheit. Wer das nicht fühlt, weiß spätestens an der ersten defekten Rolltreppe, dass hier Berlin ist. Kenner verweisen die Leute dann auf Deutschlands wohl langsamsten Aufzug.
Man ist gleich mittendrin. Dieser Bahnhof musste 2006 überstürzt zur Fußball-Weltmeisterschaft eröffnet werden. Vor lauter Euphorie merkte man erst später, dass etwas Wichtiges fehlte: Uhren. Die wurden zwar nachgerüstet. Aber fertig ist der Bahnhof trotzdem nicht. Er wird es auch nie werden.
Auf der Ostseite fehlt dem Bahnsteig ein Stück Dach. Das haben sie nicht mehr hingekriegt. Als die WM vorbei war, merkte man, dass die fehlenden Bauteile bereits entsorgt waren.
So kann es passieren, dass bei Regen die Fahrgäste der ersten Klasse beim Aussteigen nass werden. Das Kopfschütteln war kurz. In Berlin darf man bei kleinen Schildbürgerstreichen eher klammheimliche Freude vermuten. Ist ja nicht der Flughafen oder die missglückte Wahl.
Draußen am Busbahnhof bleibt die Anzeige dunkel, aber der Bus kommt trotzdem. Dass der Ticket-Entwerter die Arbeit verweigert, muss nicht stören. Wenn man Glück hat, kommt vom Fahrer ein joviales „Jeht aufs Haus“.
Meistens kommt gar nichts, weil das niemanden interessiert. Die Berliner sind zurecht stolz auf ihren Nahverkehr aus S-Bahn, U-Bahn, Bus und Tram. Nur funktioniert er nicht immer, und dann zeigt sich die Stadt schlagartig in ihren riesigen Ausmaßen.
Manchmal bleibt dann nur das Taxi. In dem Fall kann Ortskenntnis hilfreich sein – wenn man dem kaum des Deutschen mächtigen Fahrer die beste Route oder den Gebrauch des Navis erklären muss. Irgendwie funktioniert es dann doch.
Einzigartige Stadt
Überhaupt ist dem Berliner die Frage nicht fremd, warum in Berlin „immer alles schiefgeht“. Der Fragende handelt sich dann gern die routinierte Antwort ein, dass, erstens, in Berlin nicht „immer“ alles schiefgeht. Und zweitens nicht immer „alles“. Wenn es die Umstände erlauben, erfolgen auch Hinweise auf die Größe der Stadt und die gewaltsamen Brüche in ihrer Geschichte.
Und dass auch woanders manches schiefgeht. Stimmt ja auch. Der Zusammenbruch des Kaiserreiches, NS-Zeit, Krieg und Zerstörung und dann: 28 Jahre Teilung durch die Mauer, Insel-Dasein im feindlichen Osten. Diese Stadt ist einzigartig.
Und sie ist jung. Erst seit 1920 gibt es einen gemeinsamen Magistrat. Zuvor galt Berlin, also das heutige „Mitte“ eher als belanglose Kleinstadt neben Charlottenburg, Wilmersdorf oder Steglitz. Die Spannungen um ein „Groß-Berlin“ zwischen Stadtregierung und den heutigen Bezirken haben nie aufgehört. Bis heute liegt hier eine der Ursachen für den Eindruck, dass diese Stadt kein Ganzes ist, sondern ein Ensemble aus Einzelstädten.
Gewaltige Rathäuser aus der Kaiserzeit wie in Schöneberg bergen bis heute selbstbewusste Teil-Administrationen, deren Wille zur Kooperation mit dem Senat sehr begrenzt sein kann. Verkehrsteilnehmer kennen das, wenn plötzlich alle zentralen Achsen der Stadt reparaturbedingt gesperrt sind, weil es wieder mal keinerlei Absprachen zwischen den Bezirken gab.

Die Wahrnehmung Berlins hat sich nach dem Mauerfall 1989 lange auf die Spaltung zwischen West und Ost konzentriert. Die spielt heute eher eine geringere Rolle als die inneren Spaltungen der Gesamtstadt. Das gilt für die administrativen Grenzen genauso wie für das Sozialniveau und die Milieus. Kaum eine andere Großstadt kennt eine solche soziale Bandbreite.
Grunewald, Dahlem, Charlottenburg und Wilmersdorf, inzwischen auch Prenzlauer Berg und Pankow im Osten, liegen auf einem anderen Planeten als Kreuzberg, Neukölln oder Marzahn – geschweige denn in derselben Stadt.
Natürlich trifft das global auf viele Großstädte zu, vor allem auf Hauptstädte. In Deutschland steht Berlin mit dieser extremen Spaltung ziemlich allein da. Und es kommt noch einiges hinzu. Etwa die schiere Dimension: An seiner breitesten Stelle misst das Territorium nicht weniger als 80 Kilometer Durchmesser.
Pankow allein, einer von zwölf Bezirken, hat so viele Einwohner wie Kassel und Rostock zusammengenommen. Und die Stadt ist so reich an Gewässern, dass man Berlin ganz gut mit dem Boot bereisen kann – den Bootsführerschein zu haben, ist hier fast nützlicher als den für das Auto, das in Berlin schnell zur Belastung werden kann.
Als Berlin noch Subventions-Paradies war
Indes, erst die historischen Einflussfaktoren erschließen das, was als Berliner Mentalität gilt. Berlin war immer ein gewaltiger Staubsauger für Subventionen von außen und ist es bis heute. Erschwerend kommt hinzu, dass in Zeiten der Teilung auch Ost-Berlin als Hauptstadt auf Kosten des übrigen DDR-Staates privilegiert war. So erklärt sich die Neigung, die Finanzierung durch andere für selbstverständlich zu halten. Es liegt weniger am Hauptstadt-Status, sondern ist ein Relikt aus dem früheren Subventions-Paradies in Ost und West.
Womit wir beim „Berliner an sich“ wären. Vor allem „er“ gilt im Allgemeinen als laut, großmäulig und neigt zu großstädtischer Angeberei. Vielleicht liegt es an der etwas proletenhaft klingenden Berliner Mundart, dass die raue Direktheit bei Nicht-Berlinern zuweilen etwas penetrant wirkt. Es kann passieren, dass der Berliner erst freundlich wird, wenn man zurückschnauzt.
Die Schauspielerin Hildegard Knef, eine Berliner Ikone der 50er und 60er Jahre, hat das in einem schönen Chanson auf den Punkt gebracht. „Berlin, dein Gesicht hat Sommersprossen, und dein Mund ist viel zu groß …“ Und: „…Berlin, du gibst dem Taufschein die Würze, und hast uns dein ‚Na und‘ als Rettungsring verlieh‘n“.
Jemand hat einmal geschrieben, alles was über die USA gesagt werde, sei wahr – aber das Gegenteil auch. Wahrscheinlich trifft das auf alle großen Länder und Städte zu, also auch auf Berlin. Nur eines ist in Berlin Tabu: München. Der Vergleich mit Bayerns Hauptstadt gilt als Sakrileg und ist nur erlaubt, wenn Berlin in irgendeinem Punkt besser abschneidet – was durchaus vorkommt.
Als der Glühwein beim Charlottenburger Weihnachtsmarkt teurer wurde, empörte sich eine Berliner Tageszeitung über die „Münchenisierung Berlins“. Seitenhiebe auf München gehören in Berlin zum guten Ton, umgekehrt auch. Von Hamburg, der zweitgrößten Stadt Deutschlands, ist übrigens nie die Rede, vermutlich ahnen die Berliner, dass Hamburg da drübersteht.
Was aber, wenn jemand zwei Wohnsitze hat, in Berlin und in München? Beim Verfasser dieser Zeilen ist das so. Er versucht, das manische Gezänk der beiden Metropolen zu besänftigen, indem er stets die jeweils andere verteidigt. Das ist nicht ohne Risiko.
Die Reise nach Berlin jedenfalls nähert sich diesmal ihrem Ende. Angekommen im Regen, fällt der Blick auf die riesige Pfütze vor dem Haus. Mitten auf dem See thront fast triumphal der Abfluss zur Kanalisation – als höchster Punkt seiner Umgebung. Ach ja, Berlin. Da bleibt nur der Griff nach dem mentalen Rettungsring: Na und?