„Die Krüge! Die Krüge!“, ruft die Blondine im Dirndl von der Bühne herab. Hunderte Arme recken sich zum Zeltdach empor, literweise kreist das Bier bedrohlich über den Köpfen der Oktoberfestgesellschaft. „Ein Prosit, ein Prohoosit der Gemüüütliiichkeit!“ Tusch, Prost, runter mit den Krügen: „Und auf geht‘s! Mit einer musikalischen Reise in die Steiermark!“ Die Steirermen san very good, very, very good for Hollywood!

Very good für ein Oktoberfest ist eine Bierzeltband, die sich auf gute Laune versteht. Im Konstanzer Paulanerzelt heißt sie an diesem Abend „Freibier“ und besteht aus sechs Musikern in zünftiger Tracht. Die blonde Frau im Dirndl heißt Mareike Knopf, ist 23 Jahre alt und stammt von der Höri, doch das ist Zufall. „Es ist ganz gut, dass wir alle aus verschiedenen Orten kommen“, sagt sie abseits der Bühne zwischen Schausteller-Wohnwagen und Fahrgeschäften. Gestern waren sie noch in der Schweiz, vorher in Liechtenstein, ständig unterwegs und immer zu siebt: „Da ist es schon wichtig, dass sich nach der Tournee wieder jeder in seine eigene Umgebung zurückziehen kann.“

Doch der Urlaub liegt noch in weiter Ferne. Oktoberfestzeit ist Hochsaison, da muss die Truppe zusammenhalten. „Ja wo sind denn die starken Männer?“, ruft Knopf in die Menge. „Hiiier!“, schallt es zurück. „Und wo seid ihr, ihr hübschen Frauen?“ Nicht zu fassen, wie viele hübsche Frauen es gibt! „Halleluja! Sind unsre Girls net wunderbar!“, stimmt Sänger Ralph Crazzolora ihrem selbstbewussten Urteil zu: „Darum Manderl, Hand aufs Herz, lasst uns singen himmelwärts!“

Wie kommt man zu einer Partyband? Bassist Martin Kretzdorn, 36 Jahre alt, blickt bei dieser Frage etwas verlegen auf den Kiesboden des Festgeländes. Dass sich seine Karriere auf Oktoberfesten abspielen würde, sagt er, hätte er mit Anfang 20 nicht gedacht. „Als ich damals meine Ausbildung am Münchner Bass-Institut begann, wollte ich in die Rockmusik gehen. Aber dann haben mir die Dozenten gesagt, dass man auf zwei Arten malen kann: als Künstler auf einer Leinwand oder als Maler auf einer Hausfassade.“ Das eine ist schön. Das andere bringt Geld. So malt Kretzdorn mit seinem Bass nun musikalische Häuser an. „Aber ich stehe voll dahinter!“, beeilt er sich hinzuzufügen.

Ob das stimmt? Hinter dem Bierzelt ist man sich da nicht so sicher. Zu nachdenklich und zurückhaltend wirkt er, ganz anders als die extrovertierte Frohnatur Knopf. Doch auf der Bühne wirkt Kretzdorn wie verwandelt, groovt zu Schlagern wie „Nossa“ oder „Bitte mit Sahne“, als hätte er sich nie etwas anderes erträumt. Und wenn Mareike Knopf dem schon berauschten Publikum per Handzeichen das Schunkeln erklärt – „Also: von links nach rechts! Verstanden? Links... nach rechts...! Links...rechts...“ –, dann schunkelt er artig mit. Sein Bass ist wuchtig, das Schlagzeug massiv. Aber so muss es klingen, wenn Musik nicht Ausdruck feinsinniger Reflexionen über das Leben sein soll, sondern bloß Bölkstoff für die Ohren.

Denn wie das Bier ist auch die Partymucke vor allem ein Produkt solider Handwerkskunst. Es gilt, dem Publikum ein wohliges Gefühl des Wiedererkennens und Aufgehobenseins zu vermitteln, das perfekte Design einer musikalischen Hausfassade. Alles, was auf dieser sorgsam gleichmäßig gestrichenen Wand irritieren könnte, ist tabu: die plötzliche Pause, das überraschende Solo, die unerwartete Wendung. Pflicht dagegen ist der dauerhafte Viervierteltakt, die penetrante Betonung auf der Eins, die stets gerade noch erträgliche Lautstärke. Und natürlich die Bierzeltrituale. „Die Krüge!“, ruft Mareike Knopf: „Ein Prosit, ein Prohoosit...“

Bis in die siebziger Jahre zurück reicht die Geschichte der immer wieder verjüngten Gruppe. Damals, als „Freibier“ noch „Moonlights“ hieß, standen Rockkonzerte auf dem Programm. Mit Bierzelten, sagt Kretzdorn, habe die Band bis zur Jahrtausendwende nichts am Hut gehabt. Doch dann kam die Krise, erst auf dem Tonträgermarkt, dann auch im Konzertbetrieb. Und mit ihr die Erkenntnis, dass eine Zukunft nur auf Partybühnen liegen kann. Seit 2010 heißt die zwischenzeitlich in „Jigger Skin“ umbenannte Band nun „Freibier“. Spuren der Rockvergangenheit lassen sich noch heute im harten Schlagzeugspiel erahnen.

Wenn Martin Kretzdorn von Kunst und Geld spricht, von Leinwandmalern und Hausanstreichern, dann verfolgt Mareike Knopf diese Ausführungen mit erkennbarer Belustigung. Sie selbst ist als Posaunistin in der Blasmusik groß geworden, da gibt es keine Berührungsängste zu Volksmusik und Schlager. Aber ja doch, sagt sie, natürlich verstehe sie dennoch ihren Kollegen am Bass. Schließlich sei es ihr in den ersten Monaten bei „Freibier“ ja ganz genauso ergangen oder vielmehr: genau umgekehrt. So ein Stilwechsel von einer Rock- zu einer Partyband vollzieht sich nämlich nicht von jetzt auf gleich. Die letzten paar Rockkonzerte der Gruppe fielen noch in die neue Ära mit ihr als Sängerin: „Da musste ich dann plötzlich die Rockerin geben!“

„Freibier – und der Abend ist gerettet!“, lautet der Slogan der Band. Im Paulanerzelt ist diese Rettung spätestens um neun Uhr geglückt. In weltmeisterlicher Stimmung tanzen all die starken Männer und hübschen Frauen auf den Bierbänken: „Ein Hoch auf uns, auf dieses Leeeben!“ Und es ist schwer zu sagen, was hier mehr berauscht, das Bier oder das Lied. Was aber, wenn der Abend einmal nicht gerettet ist? „Er ist immer gerettet“, sagt Kretzdorn: „Verlassen Sie sich drauf!“ Zu gut kennen sie die Bedürfnisse ihres Publikums, etwa dass die tanzbaren Hits erst nach dem Essen kommen dürfen. Im Zweifel sticht immer noch der Joker: Einer Hymne auf die Region kann sich kein Patriot entziehen. „Wenn wir im Ruhrgebiet sind, spielen wir das Staigerlied. Letzte Woche in der Schweiz war es die Vogel-Lisi.“

Party ist nicht das ganze Leben, Mareike Knopf studiert nebenbei Logopädie, Gitarrist Florian absolviert ein Maschinenbaustudium. Auch wenn kaum begreiflich ist, wie das neben diesem Knochenjob funktionieren soll (nächste Woche stehen fast täglich fünfstündige Auftritte in Bad Canstatt, Wernigerode und Bottrop an): In zehn Jahren, da sind sie alle sicher, stehen sie immer noch auf der Bühne. Können sie aber nach diesem ganzen Bierzeltwahnsinn so ein Oktoberfest überhaupt noch freiwillig besuchen? Was für eine Frage! „Natürlich!“ und „Macht doch Spaß!“ rufen sie eifrig nickend. Nur einer sagt nichts. Gehen Sie noch freiwillig auf Oktoberfeste, Herr Kretzdorn? Ein gequältes Lächeln wird sichtbar: „Nein“, sagt leise der Bassist.