Frau Afflerbach, wussten Sie, was Sie auf der Alp erwarten würde?
Nein, ich bin ziemlich blauäugig dort angekommen. Ich habe mal zehn Tage auf einem Bergbauernhof in Südtirol gearbeitet. Doch ich hatte keine Ahnung vom Leben auf der Alp. Ich bin zwar in einem Dorf groß geworden, hatte aber wirklich keinen blassen Schimmer von der Landwirtschaft.
Sie haben Job und Wohnung gekündigt, Ihr gesamtes bisheriges Leben zurückgelassen, um auf der Alp zu arbeiten. Wie kam es dazu?
Ich habe wie unter einer Glocke gelebt. Eher unbewusst als geplant bin ich in eine typische Karrierelaufbahn geraten: Ich wurde gefördert, arbeitete an interessanten Projekten, reiste viel. Das hat mir in den ersten Berufsjahren viel Spaß gemacht. Ich kannte keine Wochenenden und Feierabende mehr. Irgendwann kam ich an den Punkt, wo ich mich nicht mehr treiben lassen wollte. Ich wollte wissen, wo ich wirklich hin will.
Warum haben sie für die vier Monate keine Auszeit vom Job genommen und gleich gekündigt?
Ich hatte kurz zuvor meinen Job gewechselt und war Marketing-Direktorin einer Hotelkette geworden, in der Hoffnung, dort wieder freier, kreativer und produktiver arbeiten zu können. Das stellte sich aber als Sackgasse heraus. Da wurde mir klar, dass ich mein Leben um 180 Grad drehen muss.
Und warum eine Alp?
Ich liebe die Berge und wusste, was das für eine Kraftwelt ist. Ich habe einen Ort gesucht, wo ich mich freistrampeln und diesen ganzen Karriere-Irrsinn hinter mir lassen kann.
Sie hatten eine etwas romantische Vorstellung vom Leben dort, mussten aber gleich ordentlich anpacken...
Ja, das war kein sanftes Hinübergleiten. Knall auf Fall war ich in dieser neuen Welt. Ich musste um 5.30 Uhr im Stall antreten. In den ersten Wochen war ich nur damit beschäftigt, irgendwie zu überleben und mich mit meinem Körper zu arrangieren. Überall tat er weh, in jeder Faser hatte ich Muskelkater. Hinzu kam, dass ich kein Schweizerdeutsch verstand. Und ich war bei dieser Familie zu Besuch und hatte nicht mehr meine eigene Wohnung.
Die Familie hatte drei Kinder, mit neun, acht und fünf Jahren. Sie haben mit dem Neunjährigen ein 200 Kilogramm schweres Stromkabel verlegt. Das war eine enorme Verantwortung.
Das stimmt. Während der Schulzeit waren die Kinder bei den Großeltern, in den Ferien auf der Alp. Für mich war es ein großes Wunder, welch starke Persönlichkeiten dieses Leben dort hervorbringt. Wenn ich die Kinder dabei hatte, war ich auch für sie verantwortlich und nicht nur für die Tiere.

Morgens ging‘s ans Ziegen- und Kühemelken, die sie aber erst mal auf der Weide holen mussten.
Die Ziegen übernachten im Stall zum Schutz vor Füchsen und Wölfen. Die Kühe und Rinder sind nachts draußen.
Sie haben sie ja zum Teil allein rein geholt, 50 Rinder und mehr. Wie haben Sie das gemacht?
So ein Rind wiegt 750 Kilogramm. Seite an Seite mit so einem Koloss zu arbeiten, das ist schon gewöhnungsbedürftig. Ich musste den Tieren zeigen, dass ich der Chef bin und sie im Stall an ihren Plätzen anbinden.
Wie macht man das?
Alle Verhaltensweisen, die ich vom Büro her kannte, konnte ich dort in die Tonne klopfen. Ich musste mich groß machen, die Stimme laut und tief und zeigen, wer der Herr ist. Bei unseren Milchkühen war das anders. Die konnte man am Halsband nehmen, ein bisschen ziehen und an ihre Plätze führen.
Hatten Sie keine Angst?
Bei den 120 Rindern von anderen Bauern, die dort oben in der „Sommerfrische“ waren, manchmal schon. Die Rinder musste man mit dem Hirtenstock in den Stall treiben. Netti und Rex, die Hunde, haben mir geholfen. Sie haben die Rinder in die Fesseln gebissen oder zumindest so getan. Da kam dann Schwung in die Herde.
Besonders Rex hat Ihnen geholfen, weil er wusste, was zu tun ist.
Ja, das Problem am Anfang war, dass er schon mit seiner Arbeit anfing und bellte, bevor ich soweit war. Dann war das Tor für die Tiere noch nicht offen oder der Strom noch nicht an.
Sie mussten nicht nur melken, den Stall ausmisten, sondern auch Zäune aufbauen oder versetzen, beim Holzmachen und Bäume fällen helfen, die Tiere auf den Weiden zählen. Abends sind Sie todmüde ins Bett gefallen. Haben Sie mal ans Aufgeben gedacht?
Das Aufgeben kam für mich nicht in Frage, auch wenn ich oft am Ende meiner Kräfte war. In meinem ersten Sommer war das Wetter auch unterirdisch schlecht. Wir hatten tagsüber oft nur zwischen sieben und 14 Grad.
Sie sind körperlich stärker geworden durch die viele Arbeit. Und seelisch?
Ja., meine Hände sind größer geworden und ich habe Muskeln an Stellen bekommen, die ich vorher noch nicht kannte. Aber vor allem bin ich auch innerlich stärker geworden. Alles, was ich tat, brachte sofort ein Ergebnis mit sich, die Kuh war gemolken, der Zaun war repariert. Es gab keine Diskussionen wie im Büro, und jeder Handgriff hatte Sinn!
Geplant wurde nichts, erst am Morgen beim Frühstück wurde entschieden, was zu tun ist. Ganz anders, als Sie das vom Büro her kannten.
Ich konnte nicht verstehen, warum der Bauer keinen Plan hat, was diese Woche zu tun ist, und dass er viele Arbeiten einfach vom Wetter oder anderen aktuellen Faktoren abhängig machen musste.
Haben Sie eine brenzlige Situation erlebt?
Ja, schon. Einmal hatten wir 29 Rinder von Bauern aus dem Tal schon im Stall, aber noch nicht angebunden. Sie leben sonst in Laufställen und sind Menschen nicht gewöhnt. In ihrer Not treten sie nach hinten aus. Ein Tier hat mich am Knie erwischt. Zum Glück stand der Bauer hinter mir, fing mich auf und schob mich aus der Tür. Wenn ich hingefallen wäre, hätten mich die Rinder niedergetrampelt.
Wie hat die Zeit dort ihr Leben verändert?
Ich habe gemerkt, dass ich wieder selbstbestimmt leben möchte. Dieses Gefühl war über Jahre verschüttet. Ich habe mich selbständig gemacht und die Freiheit gefunden, die ich so vermisst hatte. Und ich gehe geerderter und gestärkter durchs Leben.

Katharina Afflerbach:
„Bergsommer“, Eden Books, Hamburg, 255 Seiten,
14,95 Euro
Zur Person
Katharina Afflerbach, 42, hat Karriere gemacht bei Kreuzfahrtreedereien und einer Hotelkette. Viele Dienstreisen und Überstunden bestimmten ihren Alltag. Sie wollte sich endlich mal wieder lebendig fühlen. So kündigte sie ihren Job als Marketing-Direktorin einer Hotelkette in Köln, um vier Monate in der Schweiz auf der Alp Salzmatt (auf der Grenze zwischen den Kantonen Bern und Fribourg zirka 30 Kilometer südlich von Bern) zu leben. Inzwischen sind aus einem Sommer dort schon drei geworden. Ihr Leben hat sie von Grund auf geändert: Sie hat sich selbständig gemacht und lebt als freie Texterin in Köln. (ink)