Sein historisches Narrenhäs auf Ebay verticken – so etwas gehört sich nicht für einen Rottweiler Narren. Das ist ein Bruch mit den ungeschriebenen Gesetzen der Fastnacht, mit dem man Anstoß erregt. Dieter Albrecht hat diesen Tabubruch vor ein paar Monaten bewusst riskiert, weil er die Narren aufrütteln wollte: „Ich weiß ja, wie man auf den Rottweilern Klavier spielt“, sagt der 53-Jährige, der beruflich einen Schlüsseldienst betreibt, schon für die Freien Wähler im Gemeinderat saß wie auch im evangelischen Kirchengemeinderat, der wiederholt bei Bürgermeisterwahlen in Rottweil und Zimmern kandidierte und der gerne mal provoziert.

Historische Aufnahme des 1928 hergestellten Schantle (rechts).
Historische Aufnahme des 1928 hergestellten Schantle (rechts). | Bild: Dieter Albrecht

Bis vor Kurzem war Albrecht stolzer Besitzer eines Schantle-Kostüms von Rang: Fünf Generationen war es im Besitz seiner Familie. Auf Postkarten und in Büchern, die Albrecht besitzt, wurde das Häs exemplarisch für die Rottweiler Narrenfiguren abgebildet. Albrecht hat es von seinem Großvater geerbt und der von dessen Großvater und so weiter. Gehört hat das traditionelle Kostüm einst dem Rottweiler Schultheiß Edwin Glükher – mit dem Schantle hat Albrecht auch den Edwin vom Ur-Ur-Großvater geerbt, als zweiten Vornamen. Ein Erbstück von hohem ideellen Wert – und auch einigem materiellen.

Ein Fall fürs Museum

15 000 Euro wurden ihm bei der Ebay-Auktion für Larve und Kleidle angeboten. Verkauft hat es der 53-Jährige schließlich trotzdem nicht. Stattdessen übergab er es kürzlich dem baden-württembergischen Landesmuseum, das es ab 5. Februar in einer Ausstellung im Museum der Alltagskulturen in Waldenbuch (Kreis Böblingen) zeigen wird. Eigentlich habe er es ohnehin nie verkaufen wollen, sagt Albrecht – nur provozieren und die Narren zur Diskussion anregen.

Dieter Albrecht, bisheriger Besitzer des Narrenkleides, und Raffaela Sulzner, Kuratorin in der Fachabteilung Populär- und ...
Dieter Albrecht, bisheriger Besitzer des Narrenkleides, und Raffaela Sulzner, Kuratorin in der Fachabteilung Populär- und Alltagskulturen des Landesmuseums Baden-Württembergs, halten während der Übergabe eines originalen Narrenkleides, einem Rottweiler Schantle, an das Museum der Alltagskulturen die Larve des Narrenkleides in der Hand. | Bild: Sebastian Gollnow/dpa

Es geht ihm um die Fastnacht, die nicht mehr die seine ist. Albrecht spricht von Verfall und Erosion. Von Hästrägern, die beim Narrensprung die Larve abnehmen, um zwischendurch ein Würstchen zu essen oder ein Bier zu trinken. Von Tausenden Narren, die die Traditionen nicht kennen oder sie verweigern. Von einem Stück Kultur, das zum Event verkommen ist. Schweres Geschütz, das Albrecht da auffährt – ausgerechnet gegen die Rottweiler Fastnacht, die großen Wert auf ihre jahrhundertealte Tradition legt und nicht mit jüngeren Zünften in einen Topf geworfen werden möchte.

Tradition wird vergessen

Heutzutage bestehe die Rottweiler Fastnacht vornehmlich aus dem Umzug, sagt Albrecht – und dabei sei der für den echten Rottweiler Narren nur ein Mittel zum Zweck. Der eigentliche Grund, weshalb der Narr narre, sei das Aufsagen.

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In der Tradition des Hofnarrs, der einst der Einzige war, der dem Herrscher ungeschützt die Wahrheit sagen durfte, halten die Rottweiler Narren ihren Mitbürgern nämlich den Spiegel vor: schelten sie für ihre Untaten, reden ihnen wegen ihrer heimlichen Liebschaft ins Gewissen oder kritisieren ihr asoziales Verhalten am Arbeitsplatz. Alles freilich im Schutz der Anonymität des Narrengewands, das man, um das Versteckspiel vollkommen zu machen, auch mal mit anderen Narren tauscht. „Kommunale Kulturhygiene“, nennt Albrecht das. Die heimliche Kontrollinstanz führe zu sozialerem Verhalten. Aber das Ganze funktioniert natürlich nur, wenn alle ihre Larven aufbehalten.

Den Mächtigen die Wahrheit ins Gesicht sagen: Hier findet ein Schantle 2016 beim baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried ...
Den Mächtigen die Wahrheit ins Gesicht sagen: Hier findet ein Schantle 2016 beim baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann (Grüne) Gehör. Was er ihm wohl geflüstert hat? | Bild: Patrick Seeger/dpa

„Die Fasnet hat für mich ihren Zauber verloren“

Früher habe man mit dem Schlüpfen ins Narrengewand seine Identität abgelegt, sei verschmolzen mit der Narren-Rolle. Heute sei das Ganze zum Schauspiel verkommen. Der Sündenfall liegt nach Albrechts Ansicht lange zurück: Seitdem man vor Jahrzehnten den Narrensprung von Dienstagmorgen auf den Nachmittag verlegt habe, damit auch die Stuttgarter Honoratioren dabei sein konnten, sei die Fastnacht mehr und mehr zum Spektakel geworden. „Die letzte Fasnet, die noch top war, wo sich noch keiner entlarvt hat, war 1991“, sagt Albrecht. „Die Fasnet hat für mich ihren Zauber verloren.“

Veränderung ist nicht aufzuhalten

Tatsächlich hat sich in den letzten Jahrzehnten viel geändert. So nehmen in Rottweil inzwischen 4000 Hästräger am Narrensprung teil, darunter viele Auswärtige. Früher waren es mal ein paar Hundert Einheimische, die die speziellen Gebräuche quasi mit der Muttermilch einsogen. Christoph Bechtold, Narrenmeister der Rottweiler Zunft, bestreitet das gar nicht. „Das ist ja keine neue Erkenntnis“, sagt er über Albrechts Kritik. Aber zum einen verändere sich die Fastnacht seit jeher, zum anderen halte man den gesellschaftlichen Wandel nicht auf. „Auch wir sind mit vielen Veränderungen nicht glücklich“, räumt Bechtold, wie Albrecht 53 Jahre alt, ein. Aber die ließen sich halt nicht zurückdrehen.

„Auch wir sind mit vielen Veränderungen nicht glücklich“, sagt Christoph Bechtold, Rottweiler Narrenmeister.
„Auch wir sind mit vielen Veränderungen nicht glücklich“, sagt Christoph Bechtold, Rottweiler Narrenmeister. | Bild: Bechtold

Die Entwicklung des Narrensprungs zur Großveranstaltung setzte nach Bechtolds Beobachtung in den 70er-Jahren ein. Immer mehr Auswärtige zogen sich die Rottweiler Larven und Kleidle an und machten beim Narrensprung mit. Der Versuch, das zu regulieren, indem man ab den 80er-Jahren nur noch eine bestimmte Anzahl neuer Kleidle zuließ, sei gescheitert: „Wir haben damit nur das Spekulantentum um die Kleidle gefördert. Und wir hatten keinen Einfluss mehr auf deren Qualität.“ Deshalb habe man die Beschränkungen vor neun Jahren wieder aufgehoben.

Eine Schande, dieser Schantle

An der Fastnacht wird Bechtold natürlich im Kleidle – welches, verrät er natürlich nicht – in einer Dreiergruppe zum Aufsagen unterwegs sein: „Nur das ist, wenn wir ehrlich sind, unsere Fasnet“, bestätigt der Zunftchef die Meinung des Kritikers. Was ihn nicht daran hindert, weiterzumachen – und an den Fortbestand der Fastnacht zu glauben. Anfang des 20. Jahrhunderts, vor der Neugründung, seien nur noch sieben oder acht Narren übrig gewesen. „Die Rottweiler Fasnet hat schon so viele Höhen und Tiefen erlebt. Ich bin sehr sehr sicher, dass sie fortbestehen wird.“

Dieter Albrecht will diesmal an Fastnacht einen draufmachen – beim Euro Dance Festival im Europapark Rust will er das Tanzbein schwingen. Dafür war die Jahre davor keine Zeit. Diesmal will er am Montag nur zuschauen, wenn sich die Rottweiler Narren am Schwarzen Tor zum Narrensprung sammeln – und sich später in der Stadt von ihnen „aufsagen“ lassen, sprich: die Leviten lesen.

Übrigens: Der Schantle selbst ist der beste Beleg dafür, wie sehr auch die Fastnacht im Wandel begriffen ist.
Kenner Albrecht berichtet, dass diese gediegen daherschreitende Figur einst ein Unhold war, der sich schändlich aufführte, beim Narrensprung mit Rossäpfeln warf und den Frauen untern Rock langte. Also alles im Fluss bei der Fastnacht. Albrecht weiß das. Aber seine Fastnacht ist das dann halt nicht mehr.

Nichts verstanden? Für Fastnachts-Anfänger erklären wir die wichtigsten Begriffe:

  • „Kleidle“: Das Narrengewand oder Häs der schwäbisch-alemannischen Fastnacht. In Rottweil gibt es den Federahannes, den Schantle, das Fransenkleid, den Biß, den Gschell, den Guller und den Narrenengel. Die Figuren unterscheiden sich aber nicht nur beim Kleidle, sondern auch bei der Larve (der Maske).
  • „Aufsagen“: Der eigentliche Sinn und Zweck der Rottweiler Fastnacht – seinen Mitbürgern den Spiegel vors Gesicht halten, ihnen (im Schutz der Anonymität) ihre Verfehlungen und Schandtaten vorhalten und ihnen die Meinung sagen. Geschieht während des Umzugs, aber auch danach. Das Aufsagen findet übrigens auch andernorts statt – je nach Ort spricht man vom Intrigieren, Strählen oder auch vom Schnurren.
  • „Jucken“: Beim Narrensprung springen (der Federahannes mit seinem Stab), gehen (der eher bedächtige Schantle) und hüpfen alias jucken die Narren „d’Stadt nab“.
  • „Juchzgen“: Zum Gruß jauchzen die Rottweiler Narren ihr Hu-hu-hu – nicht etwa Ju-hu-hu oder Hü-hü-hü, wie die Zunft auf ihrer Homepage hervorhebt. Offenbar sind nicht alle Narren der Gebräuche kundig.