Irgendwann war ihr Verhalten auffällig. Im Alter von zehn Monaten begann Lynn zu singen. Auf Melodien erfand sie eigene Texte. Mehrere Strophen trällerte das Kind zum Erstaunen ihrer Eltern Juliane Schartel und Stephan Wilhelm. Der Familie in VS-Schwenningen war klar, dass Lynn geistig nicht nur fortschreitet, sondern Sprünge macht.
Der IQ liegt über 130
Nun bringt Juliane Schartel einen Vorteil ins Gefüge: Sie ist Lehrerin. Sie nahm ihre Tochter und absolvierte einen Intelligenztest mit dem Kind. Die Prüfung bestätigte, was die Eltern ahnten oder fürchteten: Lynn ist hochbegabt, sie weist einen IQ von mehr als 130 auf. „Als die Diagnose kam, war ich wie vor den Kopf gestoßen,“ entfährt es der Mutter.
Diagnose? Überdurchschnittliche Aktivitäten in der Gehirnregion sind keine Krankheit, sondern ein Geschenk. Aber ein besonderes Geschenk, eines, das es in sich hat, wie beide Eltern heftig bestätigen.
Auch der Hund hört mit
Wir sitzen am Tisch in der gemütlichen Wohnküche. Die Eltern, Lynn (12), ihre Schwester Maya (9) sowie der Familienhund Ahri. Dass die Hunderasse der Corgis zu den klügeren zählt, wird im Lauf des Gesprächs berichtet. Und dann ist da noch Marius, der jüngere Bruder. Der Sechsjährige durchläuft das erste Schuljahr.
Hochbegabung ist gar nicht so selten. Von 100 Menschen erzielen je zwei einen IQ von mehr als 130. Bei den Schartels trat der ungewöhnliche Fall ein, dass beide Töchter positiv getestet wurden. Ihre Intelligenz liegt zwischen und 130 und 140. Entsprechend lebhaft geht es zu. Die beiden Schwestern werfen sich die Bälle zu. Sie zünden ein Feuerwerk an Stichworten und Ideen ab. Erwachsene müssen sich argumentativ warm anziehen, um den Kopf über Wasser zu behalten. „Wir müssen ständig neue und gute Argumente finden,“ sagt die Mutter. Während andere Kinder auch mal gerne faulenzen, sind die Töchter immer auf dem mentalen Sprung. Sie lesen, basteln, fragen und lesen wieder.
Mit Lego-Konstruktionen übt Maya ihr Gehirn
Die Hochbegabung prägt sich bei diesen Schwestern unterschiedlich aus. Lynn hat in fast allen Fächern eine 1. Stark ist sie in Mathematik, Informatik und Englisch. Maya ist in den Naturwissenschaften und in der Kunst zu Hause. Sie zeichnet gut und tüftelt gerne an aufwendigen Lego-Konstruktionen; auf dem Dachboden steht ein Nachbau des Harry-Potter-Schloss Hogwarts.
„Maya nennen wir auch Mayapedia,“ sagt ihre Mutter. Das Kind hat ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Vieles weiß sie auch besser, was manchen Erwachsenen schnell nerven kann. Die Kinder unterbrechen manchen Satz, an dem sich Erwachsene abmühen. Oft sind ihre Einwürfe zutreffend. Schonungslos nehmen sie gedankliche Schwächen der anderen aufs Korn. Da benötigen Eltern gute Nerven. Die Schartels haben sie offenbar. Der Vater ist eine Seele von Mensch, bedächtig, alemannisch, geerdet. Er lässt sich so schnell nicht aus dem Konzept bringen. Er bildet den ruhenden Pol in diesem Bienenstock. Er sagt: „Wir haben eigentlich nie Wochenende. Bei uns ist immer etwas los.“
Die Kinderakademie, ein zweites Zuhause
Wenn andere Familien die Füße hochlegen oder eine Sportveranstaltung besuchen, arbeiten die beiden Schwestern am Gehirnstübchen. Regelmäßig besuchen sie die Kinderakademien der Hector Stiftung – und treffen dort auf ihresgleichen. Herausragende Schüler können dort an einem Förderprogramm teilnehmen. Mit anderen Worten: Sie lernen freiwillig, tun also etwas, was die meisten Schüler eher unter Geschrei tun: Lernen als Zeitvertreib und Freude. Rund 24.000 Grundschulkinder nehmen nach Angaben der Hector Stiftung daran teil.
Die Eltern von Lynn und Maya sagen: Die Kinder lernen gerne, weil es ihnen leichtfällt. Überall stapeln sich die Bücher. Und sie drängen in Museen und saugen die Informationen geradezu auf. Ein Besuch im Technorama? Eine absolute Delikatesse. Die Leichtigkeit des Denkens bringt auch Nachteile mit sich. Die geistige Überlegenheit kann innerhalb der Klasse schnell isolieren. Der Vorsprung der Hochbegabten kommt bei den Mitschülern als Arroganz an, als Dünkel. Maya sagt, dass sie manches Mal nicht klarkommt mit ihren Kameradinnen.
Lynn will nicht zu sehr auffallen
Lynn hat sich für eine andere Strategie fürs soziale Überleben entschieden: Sie hält den Ball flach. „Ich will nicht als Streberin gelten,“ sagt sie leise. Sie drängt sich nicht in den Vordergrund. Ihr Zeigefinger schnellt nicht zwangsläufig nach oben, wenn sie was weiß. Ihre Mutter unterstützt sie: „Es ist nicht sinnvoll, mit dieser Begabung hausieren zu gehen.“
Juliane Schartel und ihr Mann beschäftigen sich zwangsläufig mit dem Thema. Zwei Überflieger haben sie im Haus. Wie damit umgehen? Beide haben sich einige Grundsätze ausgedacht, die sie gerne weitergeben.
Sitzenbleiben ist dann kein Thema
Wenn Kinder unterfordert wirken und Leistungen zeigen, die nicht ihrem Alter entsprechen, dann empfiehlt Schartel den Test. Dann hat man nichts versäumt, auch wenn sich herausstellen sollte, dass das Kind durchschnittlich begabt ist. Wenn der Test positiv ausfällt, sollten sich die Eltern erst einmal freuen. Sie werden sich vermutlich nie mit Nachhilfestunden und Sitzenbleiben herumschlagen müssen.
Ganz wichtig: Kinder auf dem Teppich halten. „Man muss sie erden,“ sagt die erfahrene Pädagogin. Damit will sie verhindern, dass sich die Hochbegabten zu viel einbilden. Sie sollen auch soziale Fähigkeiten entwickeln. Dazu gehört auch das Verhältnis von Kind und Eltern. Schartel bringt es auf den Punkt: „Eltern dürfen sich nicht unterkriegen lassen.“ Das talentierte Kind legt es darauf an, den ganzen Haushalt auf sich auszurichten. Vater und Mutter müssen das verhindern. Im eigenen Interesse und im Interesse der Geschwister, die sich nicht von einem Überflieger beherrschen lassen wollen.
Der Alltag braucht Leitplanken
Und noch etwas: Feste Zeiten und klare Ansagen sind hilfreich. Sie gliedern den Alltag dieser Kinder und der Eltern. Feste Abläufe schaffen automatisch Regeln, an die man die Kinder dann erinnern kann. Maya beispielsweise fordert diese Leitplanke regelrecht ein, sie sagt: „In der Schule will ich, dass sich auch die anderen an Regeln halten.“
Apropos Schule: Juliane Schartel versteht nicht, dass hochbegabte Kinder in Deutschland nicht besser gefördert werden. Ihre Familie wohnt in VS-Schwenningen, die nächste Förderklasse für diese Kinder wäre in Rottweil. Wäre! Für die Kinder ist das kaum erreichbar, wenn sie nicht von den Eltern chauffiert werden. Dafür haben diese aber nicht die Kapazität.
An das Thema Elite traut man sich in Deutschland nicht heran
Aus Sicht der Mutter ist es so: Überdurchschnittlich starke Schüler werden in Baden-Württemberg zu wenig unterstützt. Aus historischen Gründen traut sich staatliche Erziehung nicht an das Thema Elite heran (es sei denn im Hochschulbereich). „Unsere Schulen konzentrieren sich vor allem auf das breite Mittelmaß“, kritisiert Schartel. In Asien oder Großbritannien sei das anders: Auffällige Talente würden frühzeitig erkannt und dann auch nach vorne gebracht. Den Begriff der Elite scheue man nicht.
Ihr bleibt nur die Eigeninitiative: Mit ihren Mädchen besucht sie eine Kinderakademie. Nichts Schöneres als lernen!
Wer hilft?
Gut ansprechbar ist die Deutsche Gesellschaft für das hochbegabte Kind. Sie ist in Regionalvereinen organisiert. Elterngruppen gibt es unter anderem für den Raum Bodenseekreis/Singen oder Schwarzwald-Baar. Den Test auf Hochbegabung kann der schulpsychologische Beratungsdienst durchführen. Spezialisiert ist das Institut für Hochbegabung in Tübingen, das außer dem Test auch eine Beratung anbietet (muss privat bezahlt werden). (sk)Auch diese Menschen liegen weit über dem Durchschnitt
- Albert Einstein ist das Genie aus dem Bilderbuch. Ihm wird ein Intelligenzquotient (IQ) von 160 zugeschrieben. Der Schöpfer der Relativitätstheorie erhielt 1922 den Nobelpreis für Physik. Der Physiker sah sich nicht nur als Spezialist, sondern ebenso als wacher Bürger. Vor den Folgen der Atomkraft warnte er ausdrücklich.
- Sharon Stone, 61, setzte in „Basic Instinct“ ihre körperlichen Reize ein – der Film machte sie berühmt. Zugleich brilliert sie in Interviews mit ihrer ausgeprägten Schlagfertigkeit. Der gemessene IQ der Schauspielerin liegt bei 154.
- Bill Clinton, 72, regierte von 1993 bis 2001 als Präsident der Vereinigten Staaten. Sein IQ liegt bei 137, der seiner Frau Hillary bei 140. Bei Clinton ist vor allem das Gedächtnis sehr gut ausgeprägt, außerdem berichten seine Berater von Präsident Clintons scharfen Analysen.
- Jodie Foster, 57, gilt in Hollywood als schwierig und als Multitalent. Parallel zur Schauspielerei, mit der sie früh begann, studierte sie. Sie führt Regie und schreibt Drehbücher. IQ: 132.
- Emma Watson, 29, wurde durch die Verfilmung der Harry-Potter-Romane berühmt. Dort spielt sie Hermine Granger, ein kluges Mädchen. Klug ist sie auch außerhalb schlauer Drehbücher, ihr wird ein IQ von 138 bescheinigt.
- Arnold Schwarzenegger, 72, halten viele für einen reinen Pracht- und Kraftkerl mit breitem Brustkorb und bescheidenem Gehirn. Das scheint ein reines Vorurteil zu sein. Der gebürtige Steirer und ehemalige Gouverneur von Kalifornien kommt in der IQ-Wertung auf den Wert 135 (gemessen). (sk)