Fast unhörbar schlüpft sie zur Tür herein. Henrike Spille senkt den Blick, nimmt Platz. Wir treffen uns in der Küche ihres Elternhauses in Villingen-Schwenningen. Das ist eine jener anziehenden Wohnhöhlen, wo zehn Menschen auf engem Raum kochen und feiern können, wie das nur zwischen Herd und Kühlschrank geht. An den Wänden hängt Geschirr, klippen Kinderbilder oder Fotos von buddhistischen Mönchen. Henrike bildet den Kontrast zur heiteren Buntheit des Raums. Sie trägt Schwarzes und Dunkelgraues. Die überschlanke junge Frau bevorzugt diesen Farbton, der ihre blasse Haut und das blonde Haar noch unterstreicht. 

Alles in Schwarz. Das schützt

Sie nennt ihren Stil Gothic. Schwarze dicke Stulpen am Unterarm, ein dunkler Kapuzenpullover in XL-Größe, dunkle Strumpfhosen. Alles eine Nummer größer. Die Übergröße als Schutz und Versteck der 22-Jährigen. Kleidung gibt ihr Raum und schafft Distanz. Henrike leidet an einer Behinderung. Sie ist Autistin mit der Ausprägung Asperger.

Henrike trägt vor allem Schwarzes. Dazu gehören auch diese düsteren Handmanschetten mit vielen Schnallen.
Henrike trägt vor allem Schwarzes. Dazu gehören auch diese düsteren Handmanschetten mit vielen Schnallen. | Bild: Fricker, Ulrich

Das Gespräch läuft zäh an. Menschen sind sonst Augentiere. Über das Betrachten des Gegenübers machen wir uns ein Bild. Man sieht sich in die Augen, forscht. Bei Henrike ist es anders. Sie meidet Blickkontakte. Ihre Augen hinter dicken Brillengläsern wandern und sehen auf die Seite. Sie umgeht direkte Ansprache und Berührung. „Es tut mir weh, wenn ich jemandem in die Augen sehe,“ sagt sie und schaut zur Wand.

Der Film „Rainman“ veränderte die Sicht auf das Syndrom

Zögernd erzählt sie. Es entsteht ein immer klareres Bild dieser Entwicklungsstörung. Von Autismus ist zwar immer wieder die Rede. Häufig werden Menschen mit einem Tick salopp als Autisten bezeichnet. Einige bekannte Filme haben sich mit Autismus beschäftigt und daraus ein gängiges Schlagwort gemacht. Was aber wirklich dahintersteckt und wie man damit umgeht, wissen oft nur die Betroffenen und ihr direktes Umfeld.

Noch ein Bild von Henrike, es zeigt eine Frau, ihr Herz liegt neben ihr.
Noch ein Bild von Henrike, es zeigt eine Frau, ihr Herz liegt neben ihr. | Bild: Fricker, Ulrich

Das Anderssein des Mädchens trifft auch die Eltern. Ihr Vater Uwe berichtet von „Leidensdruck, Unverständnis und Verwirrung“. Lange Zeit wussten seine Frau und er nicht, woran sie sind. Als die Tochter als Teenager in eine tiefe Depression fiel, tappten die ersten konsultierten Psychologen erst einmal im Dunkeln. Alles entwicklungsbedingt, meinten sie. Auf die Idee, dass es sich um das weite Spektrum von Autismus handeln könne, verfiel keiner der Therapeuten. Erst eine Abteilung der psychiatrischen Universitätsklinik Freiburg unterzog die Tochter einem drei Tage lang dauernden Test, der dann ein eindeutiges Ergebnis brachte. Erst seitdem wissen die Eltern Bescheid.

Der Vater ist Clown, ein Glücksfall

Henrike hat viel Glück und verständige Eltern. Ihre Mutter ist Erzieherin. Ihr Vater arbeitet als Autor und als Clown. Seit Jahrzehnten bringt der drahtige Mann mit seinem „Zirkus Kakerlaki“ andere Menschen zum Lachen. Er tritt mit seinem Kompagnon in Kindergärten, bei Festen und in Betrieben auf. Alle lachen, wenn der ranke Endfünziger mit der markanten Stimme auf seinem Gesicht spielt wie auf einem Instrument. Clown Ferdinand.

Seine Tochter kann das nicht. Die Mimik ist begrenzt, das Gesicht wie eingesperrt. Selten lächelt sie, dann gehen die Mundwinkel leicht nach oben. Das Lachen, das herauspoltert wie ein Wasserfall, das mit Krach und Klatschen verbindet, ist nicht ihre Sache. Henrike ist aufgrund ihrer Veranlagung still.

Tanzen bis zum Morgengrauen

Henrike ist eine intelligente junge Frau. Sie analysiert klar, dass sie anders ist. Normal. Einige Freunde haben sich bereits von ihr verabschiedet, weil sie mit ihrer schroff wirkenden Art nicht klarkamen. Andere gewann sie, hat eine andere Autistin kennengelernt. „Mit normalen Leuten kann ich mich nicht gut unterhalten.“ Gerne zieht sie ins Delta, einen Club in Donaueschingen. Dort tanzt sie die Nacht durch, bis morgens der erste Zug geht, der sie nach Villingen bringt.

Auch sie ist Autistin: Greta Thunberg.
Auch sie ist Autistin: Greta Thunberg. | Bild: Minas Panagiotakis

Die Musik dort ist laut, sehr laut. Das stört die Autistin nicht. Dagegen schottet sie sich im Alltag häufig gegen Geräusche ab. „Ich trage viel Kopfhörer,“ berichtet sie. Auch bei der Arbeit im Neckarverlag in Villingen, wo sie zur Medienkauffrau ausgebildet wird. Ihre Kollegen wissen Bescheid über ihren Asperger. „Ich arbeite gerne“, sagt sie, hat aber bereits auf 32 Stunden reduziert. Manchmal hält sie es nicht aus und zieht sich ganz zurück. Sie hat ihr eigenes Zimmer. „Es gibt Tage, da will ich niemanden sehen.“ Die Eltern sind verständnisvoll.

Dann verletzt sie andere

Manches Mal halten es die anderen nicht mit ihr aus. „Ich weiß, dass ich Menschen sehr verletzen kann, bemerkt sie in einem ihrer Präzisionssätze. Autorität, Diplomatie oder Verstellung sind nicht ihre Sache, auch nicht taktisches Sprechen. Ihr Denken und ihr Sprechen stehen eins zu eins. Gesagtes und Gemeintes fallen zusammen. Ein Witz kommt bei ihr nicht als solcher an. „Autisten verstehen keine Zweideutigkeit“, erklärt ihr Vater Uwe. Er muss es wissen, als Clown ist auch seine private Rede von Anspielungen und Zwischentönen durchsetzt. Bei seiner Tochter verfängt das nicht. Weiß ist Weiß, Schwarz bleibt Schwarz.

Rituale helfen im Alltag

Rituale helfen leben. Am besten ist es für sie, wenn bestimmte Dinge immer am selben Ort liegen. Wenn sich Dinge wiederholen und das Leben stabilisieren. Rituale sind die Leitplanken des Alltags – nicht nur in der Religion, sondern beim Essen, Trinken, Zubereiten.

Verstecken und verbergen: Der Kapuzenpulli der 22-Jährigen.
Verstecken und verbergen: Der Kapuzenpulli der 22-Jährigen. | Bild: Fricker, Ulrich

Autismus isoliert. Sie weiß das und leidet selbst darunter, sagt: „Ich bin von einem anderen Planeten.“ Sie sucht deshalb Kontakt zu Menschen mit denselben Symptomen. Für alles und jeden gibt es Selbsthilfegruppen, klagt sie, nicht aber für das weite Spektrum von Autismus, von dem Asperger lediglich eine Ausprägung ist. Henrike will selbst eine AG gründen im Schwarzwald-Baar-Kreis.

Lehrer in leuchtenden Kutten

Während sie spricht, hört ihr Vater verständnisvoll zu. Oder er schließt die Augen. Ihm helfen fernöstliche Weisheiten. Er ist überzeugter Buddhist. Im Haus befindet sich ein Andachtsraum, in dem sich Anhänger der asiatischen Religion regelmäßig treffen. Auch seine Kinder stehen dem Buddhismus nahe. In der Wohnung hängen die Porträts großer Weisheitslehrer in leuchtenden Kutten. Auf einem Foto lächelt der Schauspieler Richard Gere an der Seite eines Mönchs.

Während einem Aufenthalt in der Psychiatrie begann Henrike mit dem Malen. Aus der Therapie wurde Kunst. Sie malt nackte Frauen in kräftigen Farben, sauber gerahmt. Henrike holt die Bilder aus ihrem Zimmer und zeigt sie.

Malen und wieder Malen

Für das Foto will sie ihr Gesicht bedecken. Sie hält die Acrylgemälde vor das Gesicht. Sie versteckt sich. Gleichzeitig enthüllen die Bilder mehr als genug. Sie zeigen alle eine üppige Frau mit offenem Haar. Bei genauem Hinsehen entdeckt man: Die Gestalt ist verstümmelt. Ein Arm ist weggebrochen wie ein Stück Gips. Oder sie reißt sich das eigene Herz heraus. Es sind düstere Psychogramme. Geduldig lässt sich Henrike fotografieren und hält dabei eines der Werke vor ihr Gesicht. Mehr geht nicht.