Als erfolgreicher Künstler galt einst, wer mit seinem Werk die Gesellschaft herausforderte. Heute gibt es Preise wie den "Echo". Es geht darin weniger um Herausforderung als um Verkaufszahlen und Chartplatzierungen. Preise, die solcherart dem Massengeschmack huldigen, verfügen über eine eingebaute Harmonie-Garantie. Wer an der Spitze der Charts steht und damit die Bedürfnisse der Masse zu erfüllen versteht: Wie sollte der ebendiese Masse gegen sich aufbringen?

Ganz offensichtlich ist das möglich. Studien zufolge hören sage und schreibe 78 Prozent aller Jugendlichen Rapmusik. Deren erfolgreichste Vertreter sind Farid Bang und Kollegah. Millionen kaufen ihre Platten oder streamen ihre Songs im Internet. Sie sind Jugendidole in Berlin wie Frankfurt, in Flensburg wie Konstanz. Genau deshalb haben sie den Echo gewonnen. Zugleich singen sie aber Sätze wie diesen: "Mein Körper definierter als von Auschwitzinsassen / Ich tick' Rauschgift in Massen." Jetzt ist die Empörung groß.

Offenbar hat die Masse einen Geschmack, den sie gar nicht haben will. Was für ein gruseliges Stück: Da denken alle, wir seien uns hierzulande in den wesentlichen Fragen eines guten Miteinanders einig. Und plötzlich tut sich ein Abgrund an antisemitischer Geschmacklosigkeit auf, gekauft, gehört und geteilt von Millionen!

Die Wahrheit ist, dass es verschiedene Massen gibt. Mit den Millionen, die Kollegah schätzen, haben jene, die noch immer die Toten Hosen für die größten Provokateure Deutschlands halten, nichts gemein. Sie gehören schlicht unterschiedlichen Generationen an: Mancher, der sich über die geschmacklosen Zeilen empört, dürfte kaum ahnen, dass seine eigenen Kinder oder Enkel sie jeden Tag auf dem Schulweg hören.

Es ist die alte Geschichte von der angeblichen Verrohung der Jugend. Solange wir jung sind, ärgern wir uns über sittliche Belehrungen der Eltern. Kaum erwachsen geworden, fangen wir selbst an, unsere Kinder zu belehren. Vor 30 Jahren sang Tote-Hosen-Sänger Campino "Wir schießen 2, 3, 4, 5 Bullen um" und drehte in einer Kirche ein Skandalvideo. Er musste sich damals sagen lassen, Provokation sei ja schön und gut, bei Mordankündigungen und Blasphemie aber höre der Spaß auf. Heute ist er es, der Jugendlichen erklärt: Provokation sei ja schön und gut, bei Auschwitz aber sei die Grenze erreicht.

Jugendkultur diente schon immer der Abnabelung von der Elterngeneration. Und schon immer wurden darin mit Vorliebe genau jene Grenzen übertreten, die diesen Eltern besonders heilig waren. Wem bei Auschwitzvergleichen nichts weiter einfällt, als reflexhaft aufzuschreien und Preise zurückzugeben, der ist schon in die Falle getappt.

Was ist das für eine Musik, die millionenfach auf Schulhöfen und in Kinderzimmern tönt? Experten sprechen von "Battle-Rap". Sie sagen, es sei eine Art Wettkampf um die schlimmsten Beleidigungen und Tabubrüche. Es sind Kunstfiguren, die diesen Wettkampf führen, ein fiktives Rollenspiel. Kollegah zum Beispiel heißt eigentlich Felix Blume und studiert Jura in Mainz.

Man muss Felix Blume und seinen "Battle-Rap" nicht gut finden. Möglich ist, dass er fragwürdige Ziele verfolgt und das mit dem Rollenspiel nur eine Schutzbehauptung ist. Wenn aber etwa jeder dritte deutsche Jugendliche diese Musik hört, wären wir schlecht beraten, diese Annahme von vornherein für gesetzt zu halten. Statt erst einmal verstehen zu wollen: Was reizt unsere Kinder an dieser Musik? Wissen sie, was Auschwitz bedeutet? Gibt es einen islamistischen Einfluss? Diese Fragen kritisch, aber unaufgeregt zu diskutieren, wäre die reife, erwachsene Reaktion.

Reife Reaktionen sind aber eine Rarität geworden. Es dominiert der kindliche Drang, wegzuschauen und nach Verbot zu rufen, sobald die Wirklichkeit zum Gruseln ist. Die Gesellschaft möchte nicht diskutieren, sondern sich bei rosaroten Fernsehgalas der Illusion einer heilen Welt hingeben. Genau das ist an diesem ganzen Vorgang das eigentlich Gruselige.

johannes.bruggaier@suedkurier.de