Wetschera Wiebke

Auf die mütterliche Intuition ist bekanntlich Verlass. Auch im Fall von Pierce Cassidy sollte seine Mutter recht behalten. Als der Kanadier überlegte, für ein Auslandssemester nach München zu gehen, sagte sie zu ihm: „Geh dahin, es wird dein Leben verändern.“ Das war vor acht Jahren. Damals ahnte Cassidy noch nicht, wie wahr diese Äußerung mal werden würde. Heute lebt der 30-Jährige in Konstanz am Bodensee. „Weißt du eigentlich, wie schön es hier ist?“ hat er schon bei seinem ersten Besuch in Konstanz gesagt – denn er hat sich sofort in die Stadt verliebt.

Das könnte Sie auch interessieren

Die Liebe war es auch, die den Kanadier an den Bodensee brachte. Beim Studium in München lernte er seine Freundin Sandra Martin kennen, eine gebürtige Konstanzerin. Sie zeigte ihm im Sommer 2013 ihre Heimat. Einige Jahre lang trennten die beiden mehrere tausend Kilometer. Immer wieder war Pierce Cassidy jedoch zu Besuch in Konstanz. Dann zogen sie gemeinsam nach Berlin. Vor zwei Jahren fand das Liebespaar in Konstanz eine Heimat zu zweit. Für Sandra Martin ging es damit zurück an ihren Geburtsort, für Pierce Cassidy wurde die Wohnung im Stadtteil Paradies zum neuen Zuhause. 6500 Kilometer von seiner Familie und Freunden entfernt. Konstanz statt Toronto. 80 000 Einwohner statt drei Millionen. Cassidy tauschte Wolkenkratzer gegen alte Häuser, das Metropolenleben gegen die beschauliche Stadt inmitten der Natur. „Ich liebe es hier“, sagt er mit seinem kanadischen Akzent.

Das könnte Sie auch interessieren

„Heimat stiftet Personen kulturelle Identität. Sie ist wie eine Art Anker“, sagt Johannes Doerflinger, Sozialpsychologe an der Universität Konstanz. Durch die Entstehung von sozialen Medien habe sich der Heimatbegriff aber verändert: „Er ist heute nicht mehr so stark an einen Ort gebunden.“ Entscheidender für junge Leute sei die emotionale Bindung. Pierce Cassidy sagt, er habe schon immer davon geträumt, an einem Ort wie Konstanz zu leben. Vor zehn Jahren hat er eine Zeit lang in einem Golfclub in Jasper in der kanadischen Region Alberta gearbeitet. Der Ort hat ihm gefallen. „Es wäre toll, wenn ich irgendwann mal an so einem Ort wohnen würde“, habe er damals gedacht. Mit Konstanz hat er nun sein Jasper in Deutschland gefunden. „Es gibt so viele Ähnlichkeiten.“

Gründe, seine Heimat zu verlassen, „können Abenteuerlust, Neugier oder Möglichkeiten, die der neue Ort bietet, sein“, sagt Doerflinger. Für viele Menschen seien auch Beziehungen der Auslöser. „Ein Partner kann nicht nur das Gefühl von Heimat schenken, sondern auch die Motivation für einen Ortswechsel sein“, sagt Doerflinger. So auch bei Cassidy, der heute gemeinsam mit seiner Freundin in seiner neuen Heimat das Café Auszeit führt. Als das Gebäude im Konstanzer Paradies frei wurde, fragten seine Schwiegereltern das Paar, ob sie gemeinsam ein Café eröffnen wollten. Cassidy schlief eine Nacht darüber und sagte dann: „Let‘s go for it“ (zu deutsch: Lasst uns das machen).

Das könnte Sie auch interessieren

In dem Café treffen Cassidys alte und neue Heimat aufeinander. „Ich habe immer gesagt, dass sich ein Stück von meinem Zuhause hier wiederfinden muss.“ Im Logo ist ein Ahorn-Blatt zu sehen. Es stehen Pancakes, also kanadische Pfannkuchen, auf der Speisekarte, „das ist ein Stück meiner Kindheit“, sagt Pierce. „Und da“, er zeigt stolz in den hinteren Teil des Cafés – „ist meine kanadische Lounge-Ecke“. Auf der Terrasse ihrer Wohnung stehen kanadische Holzstühle, die Cassidys Mutter ihm geschenkt hat.

Hier finden Sie alle Teile der Serie #Heimatliebe

Viele junge Leute hätten heute mehr als eine Heimat, so Doerflinger: „Sie haben ihre Herkunft und eine selbst geschaffene Heimat.“ Rund 16 Prozent der Einwohner in Konstanz kommen nicht aus Deutschland. Kanadier wie Cassidy gibt es aber nur 32 weitere. Am Anfang, gibt Cassidy zu, sei es schwer gewesen, so weit weg von Zuhause zu sein. In seinem Café will er deshalb ein Zuhause für genau solche Leute schaffen. Immer wieder würden Gäste mit ihren Eltern per Video telefonieren, das findet Cassidy „richtig cool“. Er sagt: „Wenn jemand zu mir sagt, dass wir für ihn einen Wohlfühlort geschaffen haben, stehe ich am nächsten Tag gerne wieder auf.“

Zwei Jahre lebt Cassidy jetzt in Konstanz. Sein Deutsch ist gut. Und doch steckt ein Stück seiner Heimat in jedem seiner Worte, denn der kanadische Akzent ist geblieben. „Wenn meine Mutter damals schon gewusst hätte, wie wahr ihre Worte mal werden würden“, sagt Cassidy. Er lacht – weil der Schritt nach Deutschland tatsächlich sein Leben verändert hat. Er mag den Konstanzer „Lifestyle“, hat hier eine neue Heimat gefunden. „Es war die richtige Entscheidung“, sagt Cassidy und strahlt.