Herr Renz-Polster, Sie selbst haben vier Kinder, Ihr Ältester ist heute 31, der Jüngste 21 Jahre alt. Welche Probleme gab es bei Ihnen mit der Erziehung?
Einschlafprobleme, Gefühlsausbrüche, die Pubertät... die üblichen Schwierigkeiten und Rüttelstrecken des Elternlebens, denke ich.
Waren Sie unsicher als Eltern, wie Sie mit den Kindern umgehen sollen?
Wir waren noch sehr jung, als wir Eltern wurden. Ich war Student, meine Frau kam aus Indien, wo sie in einem ganz anderen Kulturkreis groß geworden ist, ehe sie nach Deutschland übersiedelte. Ich war damals der festen Meinung, dass Kinder nicht im Bett ihrer Eltern schlafen sollten. Das habe ich auch bei unserem ersten Kind durchgesetzt. Das war furchtbar. Nachts hatten wir einen schrecklichen Tanz. Meine Frau war viel bei unserem kleinen Sohn. Doch die Rechnung ging nicht auf: Ich hatte meine Frau nicht bei mir und Simon hatte auch keine richtige Schlafheimat.
Wie haben Sie das gelöst?
Wir sind damals viel gereist. Da haben wir gemerkt, dass der Kleine im Zelt schläft wie ein Murmeltier. Die drei anderen Kinder durften dann im Elternbett schlafen.
Gab es den Moment, als die Kinder sagten, jetzt gehen wir in unser eigenes Bett?
Ja, klar. Alle zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Der Jüngste ist mit vier zu seiner Schwester übergesiedelt.
Würden Sie im Rückblick etwas anders machen oder haben Sie etwas bereut?
Ja. Das geht sicher allen Eltern so. Ich war eine Zeit lang sehr streng mit den Kindern. Einer meiner Söhne hat mal Steine geworfen und ich habe mich provozieren lassen, zurückzuwerfen. Heute denke ich, was hast du dir damals gedacht? Doch es ist uns gelungen, unseren Kindern Schutz, Sicherheit und Anerkennung zu bieten. Sie kommen sehr gerne nach Hause, helfen uns, und wir können uns voll und ganz auf sie verlassen.
Was, würden Sie sagen, macht eine gute Kindheit aus?
Wenn Kinder das Erwachsenenleben betreten mit dem Gefühl: Ich bin wertvoll. Und mit der inneren Sicherheit, Anerkennung und ihren Platz im Leben zu finden.
Sie haben mal eine Mutter im Bus beobachtet, die mit ihrem Kind sang und Fingerspiele machte, bis das Kleine begann, die Füße gegen die Rückenlehne zu stemmen. Sie ermahnte es, aber ohne Erfolg. Die Mutter drohte, schaute entschuldigend die Mitfahrenden an und verließ den Bus eine Station früher – genervt und unter Protest des Kindes. Warum hat sich das Kind so verhalten?
Es hat sich so verhalten wie jedes Kind, einfach, weil es kein Gefühl dafür hat, dass es Dreck an den Schuhen hat. Wir leben in einer Umwelt mit vielen Regeln. Da stoßen Kinder schnell an Grenzen, wenn sie beispielsweise auf Steckdosen losgehen oder Porzellanvasen anfassen wollen. Die Reaktion der Eltern verstehen sie nicht. Das ist auch im Bus passiert. Das Kind wusste überhaupt nicht, was seine Mutter von ihm wollte. Es hat so geweint, dass klar war, dass da kein böser Wille dahinter ist.
Eigentlich hätte sie das Kind ablenken können...
Ja, natürlich. Aber manchmal ist es nicht so einfach, wenn man gestresst ist. Hätte sie es einfach auf den Schoß genommen, hätten beide eine tolle Zeit gehabt. Das war einfach ein Missverständnis.
Heute gibt es keine Großfamilien mehr, in denen der Umgang mit kleinen Kindern von Generation zu Generation weitergegeben wird. Doch woher rührt diese Unsicherheit der Eltern noch, die Erziehungsratgeber boomen lässt?
Eltern standen schon immer vor der Frage: Was ist der beste Weg für mein Kind? Früher gab es einen anderen Erziehungskonsens. Man wusste, die anderen machen es so, und ich mache es auch so. Doch die Zeiten, in denen Eltern immer genau Bescheid wussten, waren eigentlich die schrecklichsten Zeiten für die Kinder. Damals waren sich alle einig, dass man Kinder schlägt, dass man sie nachts acht Stunden nicht füttert und ihnen alle vier Stunden Nahrung gibt. Die Unsicherheit ist für mich eher ein Ausdruck von mehr Vielfalt. Jeder hat seinen Weg, ein anderes Beziehungs- und Menschenbild. Nach außen erscheint das wie ein Chaos, doch für mich ist es eine Chance.
Wofür?
Letztlich geht es immer um die Frage: Wer steht oben, wer unten? Wie verhandeln wir unsere Beziehungen, wie leben wir mit Kindern? Die Unsicherheit hilft den Eltern, sich darüber klar zu werden, welches ihr Weg mit den Kindern ist.

Wobei man solche Szenen, wie Sie es mit der Frau im Bus erlebt haben, häufiger sieht, zum Beispiel, wenn Kinder an der Supermarktkasse etwas wollen, nicht bekommen und anfangen zu weinen. Das ist den Eltern oft unangenehm. Da kommt der gesellschaftliche Druck ins Spiel, ebenso wie bei der Diskussion um Rabenmütter und Helikopter-Eltern.
Elternkompetenz wurde immer im Angesicht der Öffentlichkeit verhandelt. Der dicke Finger geht auf die Eltern, wenn ein Kind sich nicht angemessen verhält.
Oft vergleichen Eltern ja auch ihre Kinder, was zusätzlich Druck macht. Sie kritisieren den Förderhype bei Kindern und fordern, dass man sie Kinder sein lässt. Bürdet man ihnen mit Englisch im Kindergarten zu viel oder die falschen Inhalte zur falschen Zeit auf?
Nein, die Kinder machen das ja gerne mit. Aber der Tag hat eben 24 Stunden. Es stellt sich immer die Frage, womit die Kinder ihre Zeit verbringen. Kinder, die das eine machen, lassen das andere. Sie lernen Sprachen leicht, aber nur, wenn sie ihren eigenen kindlichen Lernmotor betätigen können. Wir Erwachsene lernen Sprachen, indem wir mühsam Grammatik und Vokabeln pauken, und das mit Schweiß auf der Stirn. Kinder lernen jede Sprache schnell, wenn ihre Freunde oder enge Bezugspersonen sie sprechen. Zu meinen, die Kinder würden mit einem halbschulischen Programm im Stuhlkreis Englisch lernen, ist natürlich Quatsch.
Auf der einen Seite steht das Spielen, auf der anderen Seite finden sich immer mehr Frühförderprogramme, die in den Kindergärten laufen sollen. Worauf sollte man den Fokus legen?
Auf das, was über die Kindheit bekannt ist. Und zwar, dass die Kinder in dieser Zeit das Fundament ihrer Persönlichkeit anlegen. Sie lernen, mit sich selber und ihren Gefühlen, aber auch mit anderen klarzukommen. Sie entwickeln soziale Kompetenz, werden stark, widerstandsfähig und belastbar. Dieser Geschäftszweck der Kindheit wird von den Kindern selbst gelöst, indem sie sich diese Aufgaben setzen, und zwar im Spiel. Kinder müssen spielen, spielen, spielen. Das ist der kindliche Weg. Man muss ihnen kein künstliches Programm vorsetzen, damit sie lernen.
Da treffen dann zwei grundlegend unterschiedliche Ansätze aufeinander.
Ja, denn der eine geht davon aus, dass das Kind von sich aus motiviert ist, um der Welt zu begegnen und sich dabei zu rüsten für das Leben. Beim anderen fangen wir möglichst früh mit dem an, was uns als Erwachsene wichtig ist. Doch bei den Kindern ist es ähnlich wie beim Hausbau: Es geht ums Fundament. Das Haus wird nicht stehen, wenn man zu früh anfängt, die Erker dranzubauen. Das Fundament ist eindeutig nicht pädagogisch vermittelbar: So können wir die Kinder nicht über soziale Kompetenz oder über Kreativität belehren. Beides müssen sie selbst erfahren und sich bewähren. Dazu brauchen sie Raum und Gelegenheit. Der Sinn der Pädagogik ist, ihnen das zu ermöglichen.
In dem Film „Elternschule“ sieht man Kinder, die in der Kinderklinik in Gelsenkirchen behandelt werden mit ihren Eltern, die ihrer nicht mehr Herr werden. Nehmen solche extremen Beispiele zu?
Ja, und das passiert überall dort, wo Eltern wenig sozialen Rückhalt oder psychische Probleme haben. Wenn sie mit dem Rücken zur Wand stehen, zeigen die Kinder Entwicklungsprobleme. Die häufen sich in Schichten und Gegenden wie in Gelsenkirchen. Manche dieser Kinder im Film haben traumatische Gewalterfahrungen hinter sich. Andere sind auch körperlich belastet. Sie sind im wahrsten Sinne des Wortes „beziehungskrank“.
Man sieht Kleinkinder schreien, weinen, beißen. Kinder, die über Grimassen und Stinkefinger kommunizieren. Säuglinge schreien 13 Stunden am Tag, wie eine Mutter berichtet.
In dem Film sieht man Kinder und Eltern in schwerer Not. Ich sehe Kampfbeziehungen statt echter Beziehungen. Vordergründig wird darum gekämpft, wer Chef ist und die Ansagen macht. In Wirklichkeit zielt der Kampf auf Anerkennung und Geborgenheit. Man sieht Kinder, denen es genau daran fehlt: an emotionaler Sicherheit, Wertschätzung und Nestwärme.
Für Empörung hat eine Szene gesorgt, in der eine Krankenschwester einen Jungen, der nicht mehr essen will, lange schweigend festhält. Da kam der Vorwurf der „Zwangsfütterung“ auf. Wie denken Sie darüber?
Natürlich sind das Zwangsszenen, die da gezeigt werden. Auch Kinder durch Hungern zum Essen zu bringen, ist Zwang – nichts anderes. Mit diesem Verhalten sollen die Eltern lernen, wie sie dem Kind klare Grenzen setzen. Die Kinder haben keine Wahl, und wenn alles nichts hilft, droht die Zwangsernährung per Magensonde. Der Film zeigt für mich eine therapeutische Unterwerfung der Kinder.
Eltern wollen, dass ihr Kind fröhlich ist, abends schläft, dass es gut isst, dass es sich nach ihrem Willen verhält. Was wollen denn die Kinder?
Die Kinder wollen sich einfach wohlfühlen. Sie wollen das Gefühl haben, in einer Welt zu leben, die stimmig ist und die ihnen Anerkennung und Sicherheit gibt. Wenn man in diesem Sinne gut zu ihnen sein kann, dann sind sie gutmütig und kooperativ. Das ist meine tiefe Überzeugung, meine Erfahrung und auch Stand der Wissenschaft.
Fragen: Birgit Hofmann
Zur Person
- Herbert Renz-Polster, 1960 in Stuttgart geboren, ist Kinderarzt, Wissenschaftler und Autor, der sich mit der kindlichen Entwicklung aus Sicht der Verhaltens- und Evolutionsforschung beschäftigt. Seit 2006 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Mannheimer Institut für Public Health der Universität Heidelberg mit Forschungsschwerpunkt Gesundheitsförderung im Kindesalter (seit 2011 als assoziierter, also nicht fest angestellter Wissenschaftler). Renz-Polster hat mehrere Sachbücher und Elternratgeber zum Thema kindliche Entwicklung und Gesundheit veröffentlicht, das bekannteste heißt „Kinder verstehen“. Daneben und dazwischen wurde er Vater von vier Kindern, die inzwischen 21, 25, 26 und 31 Jahre alt sind. Mit seinem jüngsten Sohn und seiner Frau Dorothea lebt er in Vogt bei Ravensburg.
- Vortrag am 28. November um 19 Uhr im Milchwerk Radolfzell: Das Pestalozzi Kinder- und Jugenddorf Wahlwies lädt Herbert Renz-Polster zum pädagogischen Themenabend ein. Er wird einen Einblick geben, was Kinder wirklich brauchen, um die in ihnen angelegten Stärken und Fähigkeiten zu entfalten. (ink)
Ein erbitterter Erziehungsstreit
- „Elternschule“: Der zweistündige Dokumentarfilm begleitet die mehrwöchige Behandlung psychosomatisch erkrankter Klein- und Vorschulkinder in der Kinder- und Jugendklinik Gelsenkirchen. Sie leiden an massiven Ess-, Schlaf- und Verhaltensstörungen. Manche schreien über Stunden. In die stationären Therapien in der Abteilung Pädiatrische Psychosomatik sind auch die Eltern stark eingebunden. Jährlich werden 150 Kinder und ihre Eltern behandelt.
- Was zu sehen ist: Der Film sorgt für kontroverse Debatten über die angewandten Therapiemethoden. Gezeigt wird, wie Kinder mit Schlafstörungen allein in einem dunklen Schlafzimmer die Nacht verbringen – und irgendwann durchschlafen können. Ein Mädchen, das nur Pommes und Chicken Nuggets isst, lernt mühsam, auch andere Speisen zu essen. Zu sehen sind verzweifelte Eltern mit großen Schwierigkeiten, ihr Kind allein zu lassen. Nach Ansicht des Deutschen Kinderschutzbundes enthält der Film Szenen, in denen Kinder psychischer und physischer Gewalt ausgesetzt sind. Die Klinik wies die Vorwürfe zurück. „Unsere Arbeit ist absolut gewaltfrei. Die klinischen Methoden entsprechen dem aktuellen Forschungsstand und den Standards der medizinischen Wissenschaft“, schreibt der ärztliche Leiter der Abteilung.
- Ermittlungen: Die Staatsanwaltschaft hat ihre Ermittlungen gegen die Kinder- und Jugendklinik Gelsenkirchen im Zusammenhang mit der Filmdokumentation „Elternschule“ eingestellt. „In dem Film ist nichts zu sehen, was als Straftat zu werten wäre“, hieß es. Auch eine unangemeldete Kontrolle der Klinik durch die Bezirksregierung Münster habe keinen Anlass für Ermittlungen ergeben. Die Staatsanwaltschaft hatte wegen möglicher Freiheitsentziehung und Gewalt gegen die Kinder ermittelt. Nach Erscheinen des Films hatte sie mehrere Strafanzeigen erhalten.
- Der Film läuft zur Zeit nur in ausgewählten Programmkinos:
http://www.elternschulefilm.de (ink/dpa)