Wer sind wir, zu welchem Kulturkreis gehören wir, und was hat Religion damit zu tun? Diese Fragen beschäftigen die Türkei, seit Atatürk die Republik vor 96 Jahren gründete – doch neuerdings besonders stark zur Weihnachtszeit, die mit Globalisierung und Kommerzialisierung auch in der muslimischen Gesellschaft eingezogen ist.

Im Schein von Lichterketten und zu Instrumentalversionen von „Stille Nacht“ diskutiert das Land nun alle Jahre wieder im Dezember die Frage: Kann Neujahr denn Sünde sein?

In vielen Istanbuler Geschäften sind die Schaufenster mit Weihnachtsschmuck und Christbäumen dekoriert.
In vielen Istanbuler Geschäften sind die Schaufenster mit Weihnachtsschmuck und Christbäumen dekoriert. | Bild: Susanne Güsten

Begonnen hatte die Verwirrung vor etwa 20 Jahren, als Weihnachtsschmuck in der Türkei in Mode kam. Das Land blickte damals nach Westen, die Türken fieberten dem erhofften Beitritt zur Europäischen Union entgegen, und kulturell galt alles als erstrebenswert, was aus dem Westen kam.

Wachsender Wohlstand brachte den Weihnachtskommerz

Der wachsende Wohlstand ließ die Einkaufszentren aus dem Boden schießen, Werbung und Privatfernsehen blühten auf. Kurz nach der Jahrtausendwende hielten Weihnachtsbäume, Christbaumkugeln und Lichterketten ihren Einzug in den türkischen Kommerz und gehörten zum guten Ton in der Türkei.

Weihnachten wurde umgedeutet zum Neujahtsfest

Das Weihnachtsfest selbst konnten die Türken aber schlecht adoptieren, weil sie Muslime sind – jedenfalls zu 99 Prozent keine Christen. Das kulturelle Beiwerk, vom Baum bis zu den Geschenken, wurde deshalb umgedeutet zum religiös neutralen Neujahrsfest. Die Lichterketten in den Innenstädten und Christbaumkugeln in Schaufenstern heißen in der Türkei daher „Neujahrsschmuck“. Geschenke werden am 31. Dezember unter dem „Neujahrsbaum“ ausgetauscht – so bürgerte es sich in den Großstädten des Landes ein. Der Weihnachtsmann ist in der Türkei heute als „Noel Baba“ bekannt, trägt Zipfelmütze und bringt die Geschenke zum Jahreswechsel.

Faustschlag für Weihnachtsmann

Seither schwang das kulturelle Pendel der Türkei aber wieder nach Osten. Ermuntert von der islamisch-konservativen Gesellschaftspolitik der Regierungspartei AKP von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan, holten islamistische Vereinigungen im letzten Jahrzehnt zum Gegenangriff aus.

Schläge für den Weihnachtsmann. Ein islamischer Jugendverein warnt auf Facebook deutlich vor Weihnachten:

Muslimen sei das Feiern von christlichen Festen verboten, warnten Prediger und Aktivisten alle Jahre wieder – das sei „haram“, also sündig. Ein islamischer Jugendverein illustrierte die Warnung besonders anschaulich mit einem Plakat, auf dem ein muslimisch gekleideter Mann dem Weihnachtsmann mit der Faust ins Gesicht schlägt.

Christbaum als Streitsymbol

Inzwischen sind die Türken völlig verwirrt. Was „Noel Baba“ und Christbaumkugeln mit dem Christentum zu tun haben soll, ist vielen Menschen schleierhaft – und erst recht, warum Neujahrsfeiern ein christlicher Brauch sein sollen? Weihnachtsmann und Christbaum sind inzwischen zu Ikonen des türkischen Kulturkampfes geworden.

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In Istanbul etwa stellt der oppositionell regierte Stadtbezirk Sisli einen Neujahrsbaum auf, während islamisch-konservativ regierte Stadtbezirke darauf verzichten. Über die Frage, was gefeiert werden darf, wird in der Türkei wie über so vieles also noch länger gestritten werden. Am Ende dürfte der Kommerz siegen. Denn Lichterketten, Christbaumkugeln sind dem türkischen Einzelhandel inzwischen so wichtig wie Valentinstag und Halloween der Branche in Europa.