Die Fasnacht ist „ein Thema, das die Radolfzeller Seele zutiefst berührt“. So brachte es Rüdiger Specht, Leiter des Stadtmuseums, kürzlich im Friedrich-Werber-Haus am Radolfzeller Marktplatz auf den Punkt. Obwohl die närrische Zeit derzeit noch in der Ferne liegt, beleuchtete dort anlässlich der aktuellen Sonderausstellung im Stadtmuseum ein Vortrag eine ganz besondere Phase der Fasnacht.
Kulturwissenschaftler Michael Fuchs, selbst leidenschaftlicher Narr und bis vor Kurzem Präsident des Fasnachtsmuseums Schloss Langenstein, berichtete von den Entwicklungen in der Zeit des Nationalsozialismus. Diese war geprägt von Gleichschaltung, grausamem Spott – aber auch von Widerstand und so mancher Entwicklung, die die Narretei in Radolfzell bis heute prägt. So gehen zwei Narrenfiguren der Narrizella Ratoldi auf die Zeit der NS-Diktatur zurück.
Die Geburt von Narrengarde, Kappedeschle und Narrenspiegel
1933 wurde die Narrengarde gegründet und damals neu die Figur des Kappedeschle eingeführt. Zudem gehe auch eine beliebte Fasnachtsveranstaltung auf die NS-Zeit zurück: 1933 sei erstmals eine „Fasnet-Revue“ aufgeführt worden – der Vorgänger des heutigen Narrenspiegels. Radolfzeller haben dieser Zeit also so manche Tradition zu verdanken.
Dass in Berlin 1933 der Reichstag brannte, habe sich in Radolfzell zwar wie ein Lauffeuer herumgesprochen, wie Michael Fuchs in seinem Vortrag erklärte. Doch: „Die Menschen feierten unbeschwert weiter“, so Fuchs. Viele Radolfzeller hätten die Konsequenzen nicht vorausgesehen und auch die Möglichkeit ergriffen, während der Fasnacht die Politik zu vergessen. „Hinzu kam ein gut funktionierendes Denunzianten- und Spitzelsystem“, erklärte Fuchs. Das habe die Bürger weitgehend zum Schweigen gebracht.

Fasnacht wird immer ideologischer
Doch mit der Zeit änderte sich die Fasnacht: Theorien, die die christlichen Wurzeln betonten, seien bewusst unterdrückt worden. Dafür sei die Fasnacht als rein heidnischer Brauch dargestellt worden. Das habe auch Einfluss auf die Narrengestalten gehabt, so Fuchs.
In Süddeutschland und Österreich seien zum Beispiel Perchtenläufe gefördert worden. Die Perchten, also dämonisch aussehende Figuren, seien als „germanisch-heidnisch-naturkultisch“ und als Kämpfer gegen das Böse umgedeutet worden. Gemeint worden sei der Kampf gegen ungeliebte Gruppen, etwa Juden oder Bolschewisten.
Gleichschaltung und Streit
Außerdem habe das NS-Regime darauf abgezielt, die Menschen gleichzuschalten – auch in der Fasnacht und auch in Radolfzell. So sei 1933 der linientreue Otto Veit als neuer Präsident der Narrizella Ratoldi eingesetzt worden. Sein Vorgänger Hermann Fendrich sei angeblich aufgrund einer Krankheit zurückgetreten. Laut Michael Fuchs war das eine Lüge: In Wahrheit habe der demokratisch gesinnte Fendrich aufgrund seiner Überzeugungen sein Amt aufgeben müssen. Dass er auch danach noch als Narrenmusiker Teil der Fasnacht gewesen sei und eben nicht krank ausfiel, beweise dies.
Innerhalb der Narrizella habe das für Widerstand gesorgt: Narrenmutter Hans Hafner und Narrenrat Alfred Bosch seien zurückgetreten, später sei der gesamte Narrenrat gefolgt. „Die wurden alle ersetzt durch Parteigenossen“, sagte Fuchs.
Aber auch aus anderen Gründen kam es in der NS-Zeit zum Streit innerhalb der Narrizella. Wie Fuchs weiter berichtete, wurde der Kaufmann August Kratt, der angeboten habe, den Stoff für die neue Narrengarde zum Selbstkostenpreis zu bestellen, von Narrizella-Präsident Veit denunziert. Veit habe dem damaligen NSDAP-Ortsgruppenleiter mitgeteilt, dass Kratt den Stoff bei der jüdischen Firma Oppenheimer in Bruchsal bestellt habe – ein schwerwiegender Verstoß gegen die Parteigrundsätze.
Gardisten drohen wegen Streit auszutreten
Das Handeln Veits sei innerhalb der Narrizella als Verrat der Kameradschaftlichkeit angesehen worden – und führte zu Ärger. Die Gardisten seien schon zuvor über den Narrizella-Präsidenten verärgert gewesen und hätten gedroht, geschlossen der nächsten Fasnacht fernzubleiben und aus der Narrizella auszutreten, so Fuchs. Die Gruppe habe ihren Hauptmann Bino Linder außerdem aufgefordert, sein Amt als Elferrat aufzugeben, denn der Narrenrat habe hinter Veit gestanden. Dies habe Linder jedoch nicht getan.
Dabei sei der Streit für die Gardisten riskant gewesen. So sei nachträglich ihre Gesinnung überprüft und vermerkt worden, wer Parteigenossen gewesen sei und wer nicht – rund ein Drittel sei nicht in der NSDAP gewesen. Bei Linder dagegen habe es sich um einen überzeugten Nazi gehandelt, so Fuchs.
Zwar sei der große Streit durch eine Entschuldigung des Präsidenten Otto Veit und der Erfüllung mehrerer Bedingungen der Gardisten geschlichtet worden. Allerdings sei die Garde in der Folge zur selbstständigen Abteilung innerhalb der Narrizella Ratoldi geworden.
Und auch anderswo kam es zu Entwicklungen, die beim Regime nicht gut ankamen: So hätten einige Radolfzeller Narren an der Fasnacht 1934 das Thema „Heuberg“ zu ihrem Motto gemacht und seien verkleidet als politische Gegner des NS-Staats unterwegs gewesen – in Anspielung auf das Konzentrationslager Heuberg bei Stetten am kalten Markt. Sie seien dafür verhaftet worden, der Einsatz eines hochrangigen NSDAP-Mitglieds habe aber Schlimmeres verhindert.
Hass und Spott auf der Straße
Ganz andere Mottogruppen gingen in der NS-Zeit ebenfalls auf die Straße – mit Themen, die klar die Überzeugungen des Regimes widerspiegelten. So sei 1935 eine Gruppe mit einem „Schnellbetriebswagen für Saarflüchtlinge“ auf die Straße gegangen und habe sich über die Menschen lustig gemacht, die vor der Diktatur in das Saarland geflohen waren und sich nach dem Anschluss des Gebiets an das Deutsche Reich in großer Gefahr befanden. Außerdem seien an Umzügen in der Region, etwa in Singen, deportierte Juden auf Umzügen verspottet worden.
1939 habe sich die SS in Radolfzell aktiv an der Fasnacht beteiligt, die Narrizella mit Personal und Material unterstützt und sogar ein eigenes, rassistisches Fasnachtsprogramm auf die Beine gestellt.
Nazis kommen wieder zum Vorschein
Im Herbst 1939 sei es mit der Fasnacht unter NS-Bedingungen jedoch vorbei gewesen: Viele Akteure seien in den Krieg gezogen, die Fasnacht sei für viele Jahre beerdigt worden.
Ein Ende habe der Einfluss der NS-Zeit selbst nach Kriegsende nicht gehabt: So seien viele Nazis später wieder in der Fasnacht zum Vorschein gekommen. Bino Linder sei etwa bis 1954 wieder Hauptmann der Garde geworden und der Stockacher Willi Hermann als Liedkomponist Büttenredner in die Konstanzer Fasnacht eingestiegen, zudem 1961 ins Stockacher Narrengericht aufgenommen worden.