Angespannt war die Atmosphäre im Radolfzeller Gemeinderat. Im voll besetzten Ratssaal mussten sich die Stadträtinnen und Stadträte der Frage stellen, ob August Kratt, Kaufmann, Unternehmer, Wohltäter für die Stadtgesellschaft – und NSDAP-Mitglied – weiterhin als Ehrenbürger geführt wird. Die klare Antwort nach einer fast zweistündigen Diskussion: Ja, Kratt bleibt Ehrenbürger der Stadt Radolfzell.

Leicht hatten es sich die Mitglieder des Gremiums aber nicht gemacht. Lange Statements waren vorbereitet worden. Nicht jede Fraktion konnte sich auf eine gemeinsame Haltung einigen. Zu sehr war die Frage, ob ein aktives Mitglied des NS-Regimes noch mit den heutigen Wertvorstellungen an einen Ehrenbürger zusammengeht, ein Fall für das eigene Gewissen. So waren die Positionen im Gemeinderat:

Die Freie Grüne Liste

Es war ein Antrag der FGL, der die Aberkennung der Ehrenbürgerwürde für August Kratt gefordert hatte. Fraktionssprecher Siegfried Lehmann erklärte die Enttäuschung der FGL über das Gutachten der Historikerin Carmen Scheide von der Universität Bern. Diese wurde von der Verwaltung beauftragt, das Leben von Kratt zu erforschen. Vor allem vor dem Hintergrund seiner Tätigkeiten während des Dritten Reichs und ob es Belege gibt, die ihn unwürdig machen als Ehrenbürger der Stadt.

Kratt war NSDAP-Mitglied, erster Beigeordneter und nach dem Tod von Bürgermeister Josef Jöhle 1942 vom NS-Regime als kommissarischer Bürgermeister in den letzten Jahren des Krieges installiert worden. Laut Scheides Gutachten gebe es keine Quellen, die Kratt Beteiligung an Verbrechen, Denunziationen, Bereicherungen, Falschurteilen oder an Antisemitismus nachgewiesen hätten.

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„Das Gutachten berücksichtigt nicht die Oferrolle“, so Lehmann. Wer freiwillig während der NS-Zeit Verantwortung übernommen habe, müsse diese auch tragen. Lehmann brachte Beispiele von Bürgermeistern, die nach den Pogromen 1938 zurückgetreten waren. Dass August Kratt als Beigeordneter nur bürokratische Aufgaben ausgeführt hätte, würde seine Schuld nicht mindern. Auch „kleine Rädchen“ im System hätten dieses am Laufen gehalten.

Dabei räumte Lehmann auch die positiven Aspekte des Lebens von August Kratt ein. Die Familie Kratt habe der Stadt viel Gutes getan. Das Kaufhaus Kratt, noch heute ein bekanntes und wichtiges Unternehmen in Radolfzell, sei etwas, auf das auch er stolz sei. Dennoch erachte es die FGL als falsch, dass August Kratt als Ehrenbürger gewürdigt werde. Die Mitglieder der FGL stimmen geschlossen für ihren Antrag.

Die CDU

In einer langen gemeinsamen Stellungnahme äußerte sich die CDU-Fraktion zu dem Thema. Aufbereitet durch Christof Stadler, der versuchte, Entscheidungen von früher in die heutige Zeit einzuordnen. Kratt sei geprägt durch den Ersten Weltkrieg gewesen, er habe sein eigenes Geschäft im Fokus gehabt, wollte sich einen Vorteil verschaffen, erklärte Stadler. Sich dafür in den Dienst eines Unrechtssystems zu stellen sei verwerflich, aber es gebe keine Belege, dass Kratt andere Menschen in ein Lager gebracht oder diese auf andere Weise denunziert habe.

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Die CDU stehe zu den Grundsätzen der Erinnerungskultur: „Kommentieren und Erklären stehen im Vordergrund, nicht Verschweigen und Entfernen.“ Eine Aberkennung der Ehrenbürgerwürde würde für die CDU unter „Verschweigen“ fallen. Nach heutigen Kriterien würde man Kratt nicht mehr die Ehrenbürgerwürde verleihen.

Doch dürfe man die Entscheidung des Gremiums 1962, als August Kratt die Ehrenbürgerwürde verliehen wurde, nicht verurteilen, so Stadler. Die Beweggründe ließen sich aus heutiger Sicht nicht genau rekonstruieren, deswegen dürfte man darüber auch nicht urteilen. Die CDU-Fraktion stimmte geschlossen gegen den Antrag der FGL, August Kratt die Ehrenbürgerwürde abzuerkennen.

Die Freien Wähler

Für die Freien Wähler trug Jürgen Aichelmann, Mitglied des Arbeitskreises Erinnerungskultur, die Stellungnahme vor. Er stellte sich hinter das Gutachten von Carmen Scheide. „Ich würde mir nicht anmaßen, das Gutachten infrage zu stellen“, so Aichelmann. Er erkenne die große Recherche-Arbeit der Historikerin und befand ihre Erkenntnisse für überzeugend.

Überzeugender als die von dem freien Historiker Markus Wolter aufgetanen neuen Quellen über Kratts Beteiligung an der Zwangssterilisation von Anna Fetzer. Hier ist dokumentiert, dass Kratt eine Anfrage des Erbgesundheitsgerichtes weitergeleitet hatte. Carmen Scheide hatte diese neuen Quellen ebenfalls gesichtet und sie ihrem Gutachten hinzugefügt. Da Kratts Beteiligung an dem bürokratischen Vorgang als eher gering betrachtet wird, änderte aber auch die neue Quellenlage nicht die Einschätzung der Verwaltung, Kratt sei weiterhin als Ehrenbürger würdig. Die Freien Wähler stimmten geschlossen gegen den Antrag der FGL.

Die SPD

Die SPD-Fraktion hatte keine gemeinsame Haltung erarbeitet. Fraktionssprecher Norbert Lumbe sagte, er betrachte die Biografie über Kratt von Historikerin Scheide als das „historiografisch distanziertere Gutachten“. Er sehe diese Diskussion als aktive Auseinandersetzung mit der Verantwortung der Stadt während der NS-Zeit. Diese werde in Radolfzell aus seiner Sicht sehr ernst genommen, es sei viel für die Erinnerungskultur getan worden.

Markus Zähringer wehrte sich gegen eine Beurteilung der Entscheidung des Gemeinderates von 1962. Diese wolle er respektieren und nicht „selbstgerecht urteilen“, weil es schwer sei zu sagen, wie man selbst in dem historischen Kontext gehandelt hätte. Er wünsche sich aber weitere Diskussionen und Aufarbeitung und keine „Schlussstrich-Debatte“. Lumbe und Zähringer stimmten gegen den Antrag der FGL.

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Die SPD-Stadträtin Kristina Koch teilte die Auffassung der FGL, ein NS-Funktionär könne heute kein Ehrenbürger mehr sein. „Es gibt kein Recht im Unrecht“, sagte sie. Es handele sich zwar nur um eine symbolische Aberkennung, denn die Ehrenbürgerwürde erlischt mit dem Tod des Ehrenbürgers sowieso. Aber auch wenn es sich um Symbolpolitik handele, so könne man doch Haltung zeigen, so Koch. Derya Yildirim befand die Haltung von August Kratt für menschlich, aber nicht würdig, als Ehrenbürger geführt zu werden. Koch und Yildirim stimmten für den Antrag der FGL.

Die FDP

Hier sprach nur Fraktionssprecher Jürgen Keck für sich selbst. Er habe keinen Zweifel an dem Gutachten von Carmen Scheide. Er kritisierte die Verurteilung der Handlungen von damals aus heutiger Zeit. Damit würde man einigen Unrecht tun: „Damit macht man aus denen, die wir heute Täter nennen, Opfer“, so Keck. Jürgen Keck und Annika Keck stimmten gegen den Antrag der FGL. Fraktionskollege Richard Atkinson kam verspätet in die Sitzung und enthielt sich.

Demonstrationsteilnehmer vor dem Rathaus Radolfzell.
Demonstrationsteilnehmer vor dem Rathaus Radolfzell. | Bild: Jarausch, Gerald

Die Demonstranten

Vor der Gemeinderatssitzung hatten sich zirka 30 Menschen zusammengefunden, die einem Aufruf von Jannis Krüßmann gefolgt waren. Sie wollten auf die Debatte aufmerksam machen. Über das Ergebnis zeigte sich Krüßmann entsetzt: „Dass die Mehrheit im Rat Diskussionen über die NS-Zeit und Aufarbeitung fordert, aber gleichzeitig das auch durch August Kratt verantwortete NS-Unrecht relativiert, ist eine katastrophale Fehlentscheidung, gerade in heutigen Zeiten.“

Der freie Historiker Markus Wolter

Markus Wolter hatte die neuen Quellen zum Fall Kratt im Zusammenhang mit der Zwangssterilisation von Anna Fetzer entdeckt. Das reine Weiterleiten der Anfrage des Erbgesundgeitsgerichtes, welches in der Folge des gesamten Prozesses die Zwangssterilisation der Radolfzellerin nach sich zog, als „harm- und folgenlose bürokratische Tagesgeschäft eines Bürgermeisteramts im Jahr 1938“ abzutun, halte er für eine fatale Fehldeutung dieser Akten. Jöhle und auch Kratt seien für dieses „komplex arbeitsteilige Verbrechen verantwortlich“, so Wolter.