Sind neue belastende Dokumente zum Handeln von Ehrenbürger August Kratt während des NS-Regimes aufgetaucht? Das zumindest lässt Historiker Markus Wolter den Gemeinderat in einem offenen Brief wissen. Laut Wolter solle Kratt im Jahr 1938 als damaliger Beigeordneter von Bürgermeister Josef Jöhle an mindestens einem Fall an Zwangssterilisationen im Landkreis Konstanz beteiligt gewesen sein. Er soll eine Anfrage, die Radolfzellerin Anna Fezer betreffend, in seiner Funktion als Bürgermeister-Stellvertreter weitergeleitet haben. Fezer wurde infolge des gesamten Verfahrens, an dem mehrere Behörden beteiligt waren, zwangssterilisiert.
Wolter kritisiert unvollständige Quellenlage
Markus Wolter, freier Historiker aus Emmendingen und gebürtiger Radolfzeller, hat in der Vergangenheit immer wieder zur Geschichte des Nationalsozialismus in der Region geforscht und veröffentlicht. Laut Wolter sei das Gutachten der promovierten und habilitierten Historikerin Carmen Scheide von der Universität Bern zur Person August Kratt „mindestens unvollständig“. Für eine faktenbasierte und quellenkritische Einschätzung von Kratts tatsächlicher NS-Belastung seien relevante Archivquellen und Sekundärliteratur nicht berücksichtigt und auswertet worden, so Wolters Kritik.
Markus Wolter hatte 2020 einen Artikel über die Radolfzeller Ärzteschaft im Nationalsozialismus veröffentlicht und intensiv dazu geforscht. So konnte er Dokumente finden, die belegen, dass die Stadtverwaltung Radolfzell – übrigens als einzige im gesamten Landkreis Konstanz – im Rahmen der Umsetzung des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ auf eigene Initiative und ohne Aufforderung Zwangssterilisationen anregte und durchführen ließ. Das in der Stadt wohl bekannteste Schicksal ist das der Fezer-Schwestern.
Bürgermeister Jöhle hat Zwangssterilisationen angeregt
Der damalige Bürgermeister Josef Jöhle solle laut Recherche von Markus Wolter die Schwestern Anna Fezer und Agnes Zimmermann, geborene Fezer, eigenmächtig angezeigt und deren Zwangssterilisation „angeregt“ haben, weil er diese für „angeboren schwachsinnig“ hielt. Dies hätten Akten des Erbgesundheitsgerichts und des Gesundheitsamts Konstanz im Staatsarchiv Freiburg (StAF) belegt.
Schriftverkehr mit dem Erbgesundheitsgericht
Vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussion um die Ehrenbürgerwürde von August Kratt, habe sich Wolter die Akten zu dieser Recherche noch einmal durchgeschaut. Dabei habe er ein von Kratt unterzeichnetes Dokument gefunden, so Wolter. August Kratt habe dabei als Bürgermeister-Stellvertreter und Beigeordneter am 20. Januar 1938 eine an das Bürgermeisteramt adressierte Anfrage des Amts- beziehungsweise des Erbgesundheitsgerichts Konstanz vom 18. Januar 1938 bearbeitet, die Anfrage also weitergeleitet an die zuständige Abteilung der Verwaltung.
Die Anfrage betraf den Zustand und die Arbeitsfähigkeit von Anna Fezer, die als Putzhilfe in der Radolfzeller Volksschule tätig war. Zusammen mit einem Gutachten ihres Hausarztes und der amtsärztlichen Untersuchung des Gesundheitsamts Konstanz wurde vom Erbgesundheitsgericht 1938 die Zwangssterilisation von Anna Fezer angeordnet. Diese wurde dann vom damaligen klinischen Leiter, Ernst Suren, vorgenommen.
Gemeinderat tagt, Demonstration ist angekündigt
Laut Wolter sei damit das „Entlastungsnarrativ des Spruchkammerurteils von 1948“, Kratt sei als Amts- und NSDAP-Funktionsträger minderbelastet, faktenbasiert und quellenkritisch“ widerlegt worden. Denn das sei damit begründet worden, er habe „persönlich nie jemanden denunziert“ oder „geschädigt“.
In der kommenden Sitzung am Dienstag, 24. Juni, die um 16.30 Uhr beginnen wird, muss sich der Gemeinderat mit dieser Thematik auseinandersetzen. Im Vorfeld der Sitzung ist eine Demonstration angekündigt, die zusammen mit einer Petition auf den Fall aufmerksam machen möchte. Wer sich genau dahinter verbirgt, ist unbekannt. Die Initiatoren fordern die Aberkennung der Ehrenwürde für August Kratt wegen seiner NS-Vergangenheit. Unterzeichnet haben bisher rund 200 Menschen.
FGL fordert mehr Aufarbeitung der NS-Zeit
Ein Antrag der Freien Grünen Liste fordert zudem weitere Maßnahmen der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit, die über den Fall August Kratt hinaus reichen. Dem vom Gemeinderat in Auftrag gegebenen Gutachten von Carmen Scheide hatte die FGL in ihrem Antrag widersprochen. Zudem wurde die Entfernung von Namen SS-Angehöriger von der Gedenktafel am Luisenplatz sowie eine finanzielle Zuwendung an das jüdische Museum in Gailingen in Höhe von jährlich 10.000 Euro gefordert.
In der Vorlage zur Sitzung am 24. Juni schreibt die Verwaltung zum Thema Gutachten: „Mit dem Gutachten liegt dem Gemeinderat eine fundierte Grundlage vor, um über den Umgang mit der Ehrenbürgerwürde entscheiden zu können.“ Und Historikerin Scheide stellt in dem Gutachten fest, es gebe keine „quellenbasierte und belastbare Zeugnisse, die belegen, dass August Kratt sich während dieser Zeit an Verbrechen, Denunziationen, Bereicherungen, Falschurteilen oder an Antisemitismus beteiligt hätte.“
Stadtverwaltung möchte keine pauschale Verurteilung
Die Stadtverwaltung empfiehlt, August Kratt die Ehrenbürgerwürde nicht abzuerkennen. „Pauschale Verurteilungen der damaligen Funktionseliten nach rein formalen Aspekten wie Mitgliedschaften in NS-Gliederungen sind wenig hilfreich und ersetzen nach dem Stand der Forschung keine historisch-kritisch, wissenschaftliche Einzelfallbewertung“, steht in der Sitzungsvorlage.
Auch die anderen Forderungen der FGL werden von der Stadtverwaltung nicht unterstützt. Die finanzielle Unterstützung für das Jüdische Museum in Gailingen solle in den Arbeitskreis Erinnerungskultur verwiesen werden. Die Entfernung der Namen der SS-Kriegsverbrecher von der Gedenktafel am Luisenplatz widerspreche der Leitlinie der Erinnerungskultur der Stadt, wie es in der Vorlage weiter heißt. Auch hier wird auf den AK Erinnerungskultur verwiesen und darauf, dass man erst die Biografien aller 561 Namen auf den Gedenktafeln recherchieren müsste.