Vieles erinnert 80 Jahre nach Kriegsende an die Verbrechen und den Völkermord der Nationalsozialisten – und einiges auch an die Helfer und die Möglichmacher des NS-Terror-Regimes. In Radolfzell hatte man sich mit der Aufarbeitung dieser Vergangenheit stets schwergetan. Einordnen? Ja. Ganz aus der Öffentlichkeit löschen? Nein.
Im Fall der Ehrenbürgerwürde von August Kratt steht dem Gemeinderat erneut eine schwere Diskussion bevor, die nicht mit einer Erklärtafel zu lösen sein wird. Und zu dessen Tiefe der Schuld es unterschiedliche Ansichten, gar verschiedene Auslegung der Quellenlage gibt. Jetzt geht es nicht um Straßennamen oder Steinsoldaten, es geht um einen Menschen, dessen Name für fast alle in der Stadt ein Begriff ist.
Kratt war ab 1933 NSDAP-Mitglied, er hatte während des NS-Regimes offizielle Ämter inne, er war Bürgermeister in den letzten Tagen der Nazi-Diktatur. Er war aber auch eine angesehene, geschätzte Persönlichkeit der Stadt, als Wohltäter und Spender bekannt, Gründer eines noch immer bestehenden Kaufhauses im Zentrum, er hatte eine Familie, die noch heute in der Stadt lebt und das Andenken an den Groß- und Urgroßvater aus einer emotionalen Perspektive betrachtet.
Ehrenbürger und NSDAP-Mitglied: Das geht nicht?
Am 24. Juni muss der Radolfzeller Gemeinderat über diese für einige schmerzvolle Aufarbeitung der NS-Vergangenheit entscheiden. Die öffentliche Sitzung beginnt um 16.30 Uhr im Rathaus. Eine klare Haltung dazu hat die Freie Grüne Liste, die einen umfassenden Antrag gestellt hatte. Die Fraktion fordert eine symbolische Aberkennung der Ehrenbürgerwürde von August Kratt. Diese hatte er im Jahr 1962 bekommen. Im Ehrenbürgerbrief steht, Kratt habe „in dankbarer Anerkennung seiner vielseitigen guten Taten und Stiftungen zum Wohle der Stadt und ihrer Einwohner und in Würdigung seiner auch in schweren Zeiten stets bewiesenen menschlichen Einstellung“ die Ehrenbürgerwürde erhalten.
Eine menschliche Einstellung und eine Mitgliedschaft in der NSDAP gehen zumindest für die FGL nicht zusammen. In ihrem Antrag berufen sie sich auf den frühen und freiwilligen Parteieintritt Kratts am 1. Mai 1933. Und nennen weitere Ämter: förderndes Mitglied der SS, ab 1934 Block- und Zellenwart der NSDAP, Mitglied der antisemitischen ADEFA (Arbeitsgemeinschaft deutsch-arischer Fabrikanten der Bekleidungsindustrie) und NSDAP-Gemeinderat und letztlich erster Beigeordneter und Bürgermeister in Radolfzell. „Damit war Kratt Teil des nationalsozialistischen Terror-, Überwachungs- und Unrechtsstaates“, schreibt die FGL.
FGL widerspricht dem Gutachten
Dem vom Gemeinderat in Auftrag gegebenen Gutachten der promovierten Historikerin Carmen Scheide widerspricht die FGL. Eine „innere Abkehr von der NSDAP“, so wie Historikerin Scheide in ihrem Gutachten zusammenfasste, sei aus Sicht der FGL nicht erkennbar. Als Beleg zieht die FGL Feldpostbriefe an Soldaten heran, die Kratt im Mai 1943 unterzeichnet hatte. Darin motiviert er die Soldaten an der Front zum Durchhalten, zitierte den von Reichspropagandaminister Joseph Goebbels ausgerufenen „totalen Krieg“, obwohl die Situation der deutschen Armee im Zweiten Weltkrieg bereits seit Ende 1942 eine dramatische Kehrtwende erlebt hatte. An mehreren Fronten erlitten Wehrmacht und Waffen-SS herbe Verluste, die alliierten Truppen bombardierten und zerstörten deutsche Städte. Und noch im Dezember 1943 unterschrieb August Kratt einen Brief mit „Heil Hitler“, während dies andere Funktionäre nicht mehr taten. „Mit dem Wissen von heute ist die Ehrenbürgerwürde an August Kratt nicht länger tragbar und daher abzuerkennen“, fordert die FGL.
Jährliche Spende für das jüdische Museum
Des Weiteren fordert die FGL eine jährliche Spende in Höhe von 10.000 Euro für die museumspädagogische Arbeit des Jüdischen Museums in Gailingen. Damit solle die Stadt Radolfzell die historische Verantwortung für die Gräueltaten und Judenpogrome in der Region, die von der SS-Kaserne in Radolfzell ausgingen, übernehmen. Im Verlauf der Reichspogromnacht von 9. auf den 10. November 1938 sind auch in Horn, Wangen, Gailingen, Randegg, Singen und Überlingen viele jüdische Männer in die Keller der Rathäuser verschleppt, schwer misshandelt und gefoltert worden. SS-Männer aus der Kaserne aus Radolfzell sprengten die Synagogen in Konstanz, Gailingen, Wangen und Randegg.
Ebenso verlangt die FGL die Entfernung der Namen der nachgewiesenen SS-Kriegsverbrecher, die auf den Tafeln bei der Neugestaltung der Gedenktafeln am Luisenplatz im Jahr 1958 auf Vorschlag von damaligem Stadtrat Konrad Dombrowski zusätzlich angebracht wurden. Dombrowski war auch ehemaliges NSDAP-Mitglied. Auf den Tafeln stehen noch immer Namen wie beispielsweise Heinrich Koeppen, der erste Kommandant der SS-Kaserne und weitere 102 Angehörige der Waffen-SS.

Historikerin hat andere Bewertung von Kratts Handeln
Für den Radolfzeller Gemeinderat wird dies keine einfache Diskussion werden. Das Gutachten von Carmen Scheide kommt zu einer anderen Bewertung der Rolle August Kratts. Sie konnte einen Wandel in der Haltung Kratts zur NSDAP ableiten, interne Unstimmigkeiten seien belegt. Sie selbst habe „keine rassistischen, diskriminierenden Äußerungen von Kratt“ finden können. Auch keine Aussagen zu Jüdinnen und Juden. Die Stadt soll er nach Kriegsende kampflos an die französische Armee übergeben und so vermutlich eine komplette Zerstörung Radolfzells abgewendet haben. Bei der Entnazifizierung verschwieg er seine Taten nicht, er wurde als „minderbelastet“ eingestuft.
Auch der Arbeitskreis Erinnerungskultur, der sich im Vorfeld mit der Thematik auseinandergesetzt hat, empfiehlt nicht die symbolische Aberkennung der Ehrenbürgerwürde. Dem Arbeitskreis gehören an: Jürgen Aichelmann (Freie Wähler), Elisabeth Burkart (sachkundige Bürgerin), Norbert Lumbe (SPD), Christof Stadler (CDU) und Siegfried Lehmann (FGL).