Nun meldet sich die Verfasserin des Gutachtens über August Kratt zu Wort und verteidigt ihre Forschungsarbeit gegen die Kritik der Freien Grünen Liste. Die Gemeinderatsfraktion hatte trotz der Bewertung der promovierten Historikerin Carmen Scheide in ihrem Gutachten, man könne August Kratt als Ehrenbürger der Stadt halten, in einem Antrag gefordert, ihm diese symbolisch abzuerkennen. Darüber diskutieren wird der Radolfzeller Gemeinderat in seiner kommenden Sitzung am Dienstag, 24. Juni, ab 16.30 Uhr.
Unstrittig ist: Kratt war NSDAP-Mitglied und erster Beigeordneter und Bürgermeister der Stadt in den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges.
Scheide erklärt ihre Arbeit in einem Schreiben an die Redaktion: „Für das Gutachten habe ich allein im Staatsarchiv Freiburg 240 Akten gesichtet, zusätzlich noch in den ganzen anderen Archiven nach Quellen gesucht. Es gibt nicht einen zentralen oder gebündelten Bestand zu August Kratt, sondern die Recherche ist wie eine Detektivarbeit und aufwändig.“
Auch Bundeskanzler waren NSDAP-Mitglieder
Dass alleine die frühe Mitgliedschaft in der NSDAP und die Ausübung von Funktionen schon gegen Kratt und sein Recht auf die im Jahr 1962 verliehene Ehrenbürgerwürde sprechen würde, hält Scheide für kein hinreichendes Beurteilungskriterium. Sie nennt Beispiele wie den Industriellen Oskar Schindler, Kaufmann John Rabe oder auch Kurt Georg Giesinger, der erste deutsche Bundeskanzler, die alle ebenfalls recht früh in die NSDAP eingetreten waren und offizielle Ämter innehatten.
Oskar Schindler rettet mit seiner Fabrik zirka 1200 Jüdinnen und Juden das Leben, weil sie bei ihm als Zwangsarbeiter eingesetzt waren. John Rabe rettet sogar 200.000 Chinesinnen und Chinesen vor japanischen Angriffen im Zweiten Weltkrieg.
Des weiteren erklärt sie den aktuellen Forschungsstand zur Mitgliederentwicklung der NSDAP. Mit dem Eintritt in die Partei 1933 stand Kratt nicht alleine da. Nach dem eindeutigen Wahlsieg der NSDAP im Jahr 1933 sahen sich die Deutschen neuen Machtverhältnissen gegenübergestellt. Viele traten genau zu dieser Zeit bei, ob aus Opportunismus oder aus anderen Gründen. Zum Teil musste die Partei einen Aufnahmestopp verhängen.
Als einen frühen Eintritt aus Überzeugung bewertet Scheide den Eintritt noch vor 1933. Wie zum Beispiel der Radolfzeller Bürgermeister Josef Jöhle, der 1931 in die NSDAP eintrat. Im Jahr 1930 hatte die NSDAP 900.000 Mitglieder, Ende 1933 bereits 2,6 Millionen.
Feldpostbriefe hatten viele Autoren
Die von der FGL weiter als Beleg für die Gesinnung August Kratts angeführten Feldpostbriefe, die er 1943 an Soldaten an der Front schrieb, möchte Carmen Scheide näher erklären. Dies seien keine individuellen Briefe an einzelne Soldaten, sondern eine Art Zeitschrift, die vor ihrer Veröffentlichung durch die Zensur einer übergeordneten Parteistelle musste. Kratt hatte diese Publikation von seinem Vorgänger Josef Jöhle nach dessen Tod 1942 übernommen.
Autoren habe es mehrere gegeben, unter anderem Schriftsteller Ludwig Finckh, der Lehrer Josef Zimmermann und Frau Schreiber-Baer. Carmen Scheide stellt auf Grundlage des intertextuellen Vergleiches die These auf, dass die Texte gar nicht von Kratt selbst stammen.
Auch die von August Kratt im Jahr 1943 verwendete Grußformel „Heil Hitler“, die andere zu diesem Zeitpunkt nicht mehr nutzten, war für die FGL ein Argument, dass es keine innere Abkehr Kratts zum Nationalsozialismus gegeben habe. Hierzu erklärt die Historikerin, dass es Belge gebe, dass auch Kratt diese Grußformel ab 1942 nicht mehr regelmäßig verwendete. Es habe sich aber bei dem von der FGL herangezogenen Schreiben um eine Korrespondenz mit einem SS-Standartenführer gehandelt, was dem gehobenen Dienstrang eines Oberst in der Wehrmacht entsprach.
Hier sei die Post ebenfalls von Zensur betroffen, sodass die Grußformel „Heil Hitler“ die formal korrekte gewesen sei. Es habe auch belegbare Fälle gegeben, bei denen Personen in Schutzhaft genommen wurden, weil sie ihre Briefe nicht mit „Heil Hitler“ unterzeichnet hatten.