Die Vorstellung, dass Tote ihrem Grab entsteigen, ist den meisten Menschen vertraut. Im Christentum spielt die Auferstehung eine zentrale Rolle, und selbst Atheisten werden in Zombie-Serien und Mystery-Romanen mit der Thematik konfrontiert: Verstorbene kehren zurück und sprechen mit uns. Alles nur Wunschdenken? Mitnichten. Denn zumindest technisch sind Gespräche mit Toten längst möglich.
In Portugal arbeitet der IT-Unternehmer Henrique Jorge seit fast 15 Jahren daran, diesen Traum wahr werden zu lassen. Mit seiner Firma ETER9 will er digitale Kopien von Personen erstellen. Diese sollen vornehmlich echte Menschen bei der Arbeit unterstützen: Während diese irgendwann müde werden, könnten ihre Avatare im Internet weiterarbeiten, Mails beantworten, chatten und twittern. „Das wird uns den Status eines Supermenschen geben“, frohlockt Jorge.
Das virtuelle Alter Ego
Als Nebeneffekt könne man seine Erfindung aber auch nutzen, um mit Verstorbenen zu kommunizieren. Um solche virtuellen Alter Egos zu erschaffen, müssen zunächst Unmengen an Daten erfasst werden. Systeme wie ETER9 durchforsten alte Chat-Nachrichten, Facebook-Kommentare, persönliche Videos oder selbst geschriebene Briefe, um daraus ein möglichst genaues Profil zu erstellen.
Noch befindet sich ETER9 in einer Testphase; laut Jorge haben sich aber bereits über 100.000 Personen registriert, um die Gamma-Version seines Programms auszuprobieren. Warum? „In einer Welt, in der der Tod nicht existiert, leben diese Abbilder auch dann weiter, wenn ihr Benutzer stirbt“, sagt Jorge. „Stellen Sie sich vor, Sie könnten Albert Einstein im 21. Jahrhundert interviewen.“ Als Start-up auf der Suche nach Investoren kann es nicht schaden, das eigene Produkt mit knackigen Sprüchen zu bewerben.
Bereits 2016 programmierte die russisch-amerikanische IT-Expertin Eugenia Kuyda einen Chatbot, der sie an ihren Freund Roman Mazurenko erinnern sollte. Er war bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Gefüttert mit existierenden Chatverläufen, antwortet das Programm im Duktus des Verstorbenen – mit Text-Schnipseln, die er tatsächlich einmal geschrieben hat.
„Ich vermisse dich auch“
Das Technik-Magazin „The Verge“ schrieb damals eine ausführliche Reportage darüber. Auch einige Nachrichten, die sich Kuyda und ihr Chatbot geschickt haben, sind dort nachzulesen. „Das Leben geht weiter, aber wir vermissen dich“, schreibt sie. Der Chatbot antwortet: „Ich vermisse dich auch. Ich schätze, das ist das, was wir Liebe nennen.“
Nach ihren persönlichen Erfahrungen hat Eugenia Kuyda nun einen Chatbot namens Replika entwickelt. Dieser soll seinen Nutzerinnen und Nutzern als digitaler Freund dienen. Auch Großkonzerne wie Microsoft steigen in das Geschäft ein und haben sich entsprechende Patente gesichert.
Zugleich versichert Microsofts KI-Chef Tim O‘Brien, man wolle kein Programm veröffentlichen, das Tote nachträglich zu Chatbots macht. Auf Twitter bezeichnete er die Vorstellung gar als „verstörend“. Zumal auch die rechtliche Dimension noch gar nicht klar ist: Darf man Tote überhaupt auf diese Weise wiederbeleben? Sind solche Gespräche erstrebenswert?
„Man lebt in einer Illusion“
Yvik Adler, Co-Präsidentin der Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen (FSP), sagt: „Das ist ein Versuch der Trauerbewältigung. Aber nicht unbedingt ein nützlicher.“ Wer versuche, eine reale Person durch eine fiktive zu ersetzen, verdränge die natürlichen Stadien der Trauer. Das Ergebnis: „Man lebt in einer Illusion. Die Trauer hält ewig an.“
Dass Angehörige ihre Trauer mit einem Chatbot lindern wollen, ist bei Yvik Adler noch nicht vorgekommen. Und wenn doch? „Dann würde ich zuerst über den Verlust sprechen“, sagt die Psychologin. „So eine Technologie ist aus meiner Sicht höchstens etwas zur Überbrückung.“ In Extremfällen könne ein Chatbot durchaus hilfreich sein – zum Beispiel bei Personen, die gar nicht mehr mobil seien.
100.000 Franken sind schnell weg
Wer kann sich diese Form des Gedenkens überhaupt leisten? ETER9 will die Basisleistungen ihres Programms kostenlos anbieten und mit dem Verkauf von Premium-Lizenzen Geld verdienen. „Einen solchen Chatbot zu bauen, würde schnell 100.000 Franken kosten“, schätzt dagegen Philip Schönholzer, Mitgründer der Apptiva AG in Sempach/Schweiz.
Normalerweise programmiert er Chatbots, die andere Unternehmen im Kundenservice einsetzen. „Wenn jemand mit einem Toten reden möchte“, sagt er „dann würde ich mich als Erstes fragen, ob er mich auf die Schippe nimmt. Das ist schon eine merkwürdige Vorstellung.“
Der Experte hat Zweifel: „Man kann einem Chatbot zehn verschiedene Methoden beibringen, wie jemand eine Pizza bestellt“, sagt der IT-Experte. Eine Persönlichkeit nachzubilden, bewege sich aber auf einem ganz anderen Niveau: „Das ist so, als wenn man mit Google Translate etwas übersetzt. Meistens klappt es ganz gut, aber manchmal wird es holprig.“
Was sagt der Verstorbene zur Maskenpflicht?
Vor allem bei neuen Dingen, zu denen sich Tote zu Lebzeiten nie geäußert haben, gestalte sich ein „Gespräch“ schwierig: Was sagt der lange verstorbene Vater zu Joe Biden? Wie findet er die Maskenpflicht in der Pandemie? Die Künstliche Intelligenz kann solche Antworten allenfalls erahnen – und im Zweifel komplett danebenliegen.
Trotzdem will Schönholzer nicht ausschließen, dass sich eine solche Technologie durchsetzt. „Als ich 2016 angefangen habe, wussten die meisten Menschen nicht einmal, was ein Chatbot ist“, sagt der Programmierer. „Heute setzen ihn viele Firmen ganz selbstverständlich ein.“ Dabei seien durchaus noch viele Fragen offen, zum Beispiel, wie ein Bot genau aufgebaut sein muss, um größtmögliche Akzeptanz zu finden. Soll er möglichst nah am echten Menschen sein? Oder macht ihn das am Ende nur unheimlich?
„Was ist schon natürlich?“
In Portugal lässt sich ETER9-Chef Henrique Jorge von solch kritischen Bemerkungen nicht aus der Ruhe bringen. Fragt man ihn, ob Gespräche mit Toten nicht ziemlich unnatürlich sind, kontert er mit einer Gegenfrage: „Was ist schon natürlich?“ Interviews gibt er am liebsten per E-Mail, was zwangsläufig zu der Frage führt, wer da eigentlich tippt.
Hat er die Antworten wirklich selbst geschrieben oder war es vielleicht doch sein digitaler Avatar? Henrique Jorge meldet sich prompt. „Ich bin es, mein physisches Ich“, schreibt er und schickt einen Smiley hinterher. Selbst sein Produkt könne solche komplexen Aufgaben noch nicht erledigen – zumindest nicht vor dem Ende der Testphase.