Wenn Esra Erol den Vaterschaftstest auspackt, dann greifen ihre Zuschauer zum Taschentuch. Auf der Bühne halten die Gäste der TV-Show den Atem an, während Erol den Umschlag aufreißt, um das Labor-Ergebnis zu verkünden: „Und der Vater ist…!“
Minutenlang hält die Kamera in Nahaufnahme auf den weinenden Menschen, dessen Welt zusammenbricht; anschließend ergreift ein Panel von Moralaposteln das Wort und kaut den Fall noch einmal durch. Im Nachmittagsprogramm des türkischen Senders ATV wird täglich die schmutzige Wäsche anatolischer Familien ausgebreitet: Wer hat wen betrogen, wer hat welches Kind gezeugt?
Massives Missbrauchsproblem in der türkischen Gesellschaft
So oft stellt sich dabei ein Blutsverwandter der Mutter als leiblicher Kindsvater heraus, dass der Oppositionsvertreter in der türkischen Rundfunkaufsicht dem regierungsnahen Sender jetzt vorwarf, Inzest und Kindesmissbrauch legitimieren zu wollen. Im Gegenteil, konterte die Moderatorin: Sie lüfte mit ihrer Sendung nur den Teppich, unter den die türkische Gesellschaft ihr massives Missbrauchsproblem gekehrt habe.
Seit Jahren so beliebt wie unbehelligt, bekam „Bei Esra Erol“, wie die Show nach ihrer Moderatorin heißt, jetzt erstmals Ärger mit der Rundfunkaufsicht, die sonst überwiegend damit beschäftigt ist, regierungskritische Sender zu zensieren.
Nicht etwa wegen einer der Vergewaltigungen oder Kindsmissbräuche, um die es bei der Show oft geht, schritt die Behörde ein, sondern wegen des Jubels einer jungen Frau. „Gott sei Dank!“, entfuhr es der Frau auf offener Bühne, als die Showmasterin enthüllte, dass ihr Baby nicht von ihrem entfremdeten Ehemann gezeugt wurde, sondern von ihrem neuen Freund.
Strafe wegen Unsittlichkeit
Der Sender bekam wegen Unsittlichkeit eine Geldstrafe verpasst, der Freund wurde von empörten Zuschauern auf der Straße zusammengeschlagen, und die junge Mutter wurde in ein Frauenhaus gesteckt, wo sie an Covid-19 erkrankte; die Staatsanwaltschaft leitete zudem ein Strafverfahren wegen „Verschleierung der Vaterschaft“ ihres Kindes gegen sie ein – das ist in der Türkei ein Straftatbestand.

Proteste gegen „Esra Erol“ hagelte es in den sozialen Medien und bei der Beschwerde-Hotline der Rundfunkaufsicht gegen den Sender ATV, der zum Lager der regierungstreuen Medien gehört und normalerweise gegen öffentliche Kritik immun ist.
Die Moderatorin begegnete den Vorwürfen frontal in ihrer Sendung. „Wo blieben denn die Proteste in den sozialen Medien, als wir letzte Woche den furchtbaren Missbrauch eines 15-jährigen Mädchens aufgedeckt haben?“, fragte sie in die Kamera. „Die Probleme, vor denen wir unsere Augen verschließen, die wir verschweigen, die wir unter den Teppich kehren, die werden uns noch erdrücken. Lasst uns doch den Tatsachen ins Auge sehen und wahre Lösungen suchen.“
Haarsträubende Familiengeheimnisse kommen ans Licht
Was in der Sendung ans Tageslicht kommt, ohne dass sich die Öffentlichkeit oder die Rundfunkaufsicht daran stören, ist tatsächlich oft haarsträubend. So ergab ein Vaterschaftstest bei einem jungen Mädchen einmal, dass es sich bei ihrem biologischen Vater um ihren leiblichen Onkel handelte.
Die Mutter räumte in der Sendung ein, dass sie als Kind von ihrem Bruder vergewaltigt wurde – und fügte live hinzu, dass auch ihre Schwester ein Kind von dem gemeinsamen Bruder bekommen habe. „Wir waren nicht aufgeklärt und wussten nicht, was Vergewaltigung ist“, berichtete die Mutter. „Er hat uns betäubt und sich an uns vergangen.“
Die Schwester sei später zur Polizei gegangen, doch die habe den Fall nicht verfolgt. Der Fall war keine Ausnahme – weder in der Sendung noch in der türkischen Gesellschaft. Ein adoptierter Mann, der im vorletzten Jahr durch „Esra Erol“ seine biologische Mutter suchte, fand diese mit Hilfe der Sendung – und musste erfahren, dass sie als Kind von ihrem Bruder vergewaltigt worden war. „Ich war 13 Jahre alt und konnte mich nicht einmal selbst schützen“, sagte die Mutter in einer Live-Schalte ins Studio. Ihre Eltern hätten das Neugeborene weggegeben, um die Vergewaltigung zu vertuschen.
Unterdrückte und tabuisierte Sexualistät
Das Thema sei ein Tabu in der Türkei, sagte die Psychologie-Dozentin Ezgi Soncu Büyükiscan von der Yeditepe-Universität der Internet-Zeitschrift „Jurnal“. Zwar komme Inzest überall auf der Welt vor, vermehrt aber in einer konservativen Gesellschaft wie der türkischen, wo Sexualität unterdrückt und tabuisiert werde. „Weil Jugendliche oder junge Männer keine sexuellen Beziehungen mit einem angemessenen Partner unterhalten können, wenden sie sich zur Befriedigung des Geschlechtstriebs an jüngere Angehörige der eigenen Familie.“
„Natürlich müssen wir die Familie schützen“, entgegnete Moderatorin Esra Erol der Kritik, wonach ihre Fernsehshow die Werte und Moral der türkischen Gesellschaft untergrabe. „Aber das können wir nicht tun, indem wir die Augen davor verschließen, was in diesen Familien geschieht.“