Perlen, Perlen und noch mehr Glasperlen, blau und mit einem stilisierten Auge verziert: weißer Kreis auf blauem Grund, darin ein hellblauer Kreis und ein schwarzer Punkt als Iris. Millionenfach werden diese Amulette in der Türkei verkauft, an Touristen und an Einheimische, als Schmuck, zum Schutz vor Unglück oder als Souvenir. Nazar Boncugu heißt das Amulett auf Türkisch: Perle gegen den bösen Blick.
Fromme Muslime dürften Amulett eigentlich nicht tragen
Fromme Muslime dürften die Glasperlen eigentlich nicht tragen. Doch die Türken lassen sich davon nicht stören, denn die Angst vor dem bösen Blick ist älter als Islam oder Christentum. Bei Touristen ist das Amulett ein beliebtes Souvenir, denn mit der billigen Glasperle erwerben sie ein Stück Jahrtausende alter Kultur von Mesopotamien und dem östlichen Mittelmeer.
Der Tahtakale-Markt am Goldenen Horn in Istanbul ist der zentrale Umschlagplatz für diese Amulette. Das habe Tradition, sagt der Großhändler Erdem, der in seinem Laden über 1000 Varianten der blauen Glasperle anbietet: „Diesen Laden hat mein Großvater gegründet, ich führe ihn in der dritten Generation.“ Von pfannengroßem Wandschmuck über Schlüsselanhänger bis hin zu winzigen Ohrsteckern reicht das Angebot.
„Der böse Blick, so glaubt man, ist eine negative Energie, die ein Mensch auf seine Umwelt und andere Menschen ausstrahlen kann und schlimme Folgen verursacht“, erklärt Händler Erdem. Nicht jeder Mensch habe den bösen Blick, fügt er hinzu: „Helläugige Menschen strahlen mehr negative Energie aus und können anderen Menschen damit schaden.“

Das ist ein weit verbreiteter Volksglaube. In Tahtakale sind die Rentnerinnen Hayrünissa und Sükran unterwegs, um Perlen zu kaufen. Hayrünissa zeigt auf ein kunstvoll gearbeitetes Auge an ihrem silbernen Armband – ein Geschenk von ihrer Nichte. „Um den bösen Blick abzuwenden, trägt man das. Das ist einfach eine Tradition“, sagt sie. Auch als Aufmerksamkeit für Freunde und Verwandte eigne sich das Amulett, ergänzt ihre Freundin Sükran.
Geburt oder neue Wohnung: Perle als Schutz und Schmuck
„Wenn jemand in eine neue Wohnung zieht, dann schenkt man ihm so eine Perle, damit sie nicht vom bösen Blick getroffen wird“, erzählt sie. „Wenn ein Kind geboren wird, steckt man ihm eine blaue Perle an, damit es nicht den bösen Blick anzieht. Man hängt es auch zu Hause auf, als Schutz und Schmuck.“
Woher der Brauch komme, wüssten sie nicht, geben die Damen zu. „Das gibt es, seit wir uns erinnern können“, sagt Sükran. „Das ist ein ganz alter Glauben, und wir tragen ihn weiter.“
Jahrtausende alt ist die Angst vor dem bösen Blick – das haben Ausgrabungen in Mesopotamien gezeigt, bei denen primitive Amulette mit eingeritzten Augen gefunden wurde. Die Theorie von der negativen Energie in den Augen verbreitete schon der griechische Philosoph Plutarch, der im ersten Jahrhundert nach Christus am Tempel von Delphi als Priester diente. Erwähnung findet der böse Blick in den heiligen Schriften aller Weltreligionen.
Das Amulett mit dem blauen Auge ist in der Türkei quasi überall – in Wohnungen, Lokalen, Läden und Büros, an den Wänden oder als Schmuck am Körper. Das sei keineswegs gottlos, sagt der Juwelier Hasip. „Diese Perle symbolisiert das Gebet, sie ist Ding gewordenes Gebet“, erklärt er. „Sie kann negative Energie ziehen, weil ihr Wesen eigentlich im Gebet besteht.“
Das Amulett sei deshalb auch nicht an einen Glauben wie den Islam gebunden, beten könne schließlich jeder. Beliebt sei die blaue Perle bei Menschen aller Glaubensrichtungen, bestätigt ein Händler namens Zeydan. „Muslime kaufen die Perlen, Christen kaufen sie, alle kaufen sie.“
Viele Gedanken mache sie sich dabei nicht, sagt die Rentnerin Hayrünissa. „Klar, wir wissen schon irgendwo, dass das keine Wirkung hat“, gibt sie zu. „Aber wir stecken sie trotzdem an.“