Sonntag, 13. Dezember. Morgens um 10 Uhr klingelt das Telefon. Meine Friseurin ist dran: „Wir müssen wieder schließen. Möchten Sie Montag oder Dienstag noch kommen?“ Mein Termin wäre am Samstag gewesen. Viele schaffen es, ich schaffe es nicht. Seitdem wächst mein Fell. Das nervt.
Frisuren sind auch immer ein Spiegel ihrer Zeit. Man mag einwenden, dass Stilfragen in Zeiten, in denen es um Leben und Tod geht, wirklich nachrangig sind. Zumal in einer Phase, in der viele Menschen noch nicht mal mehr für die Arbeit aus der Jogginghose müssen, weil sie im Homeoffice arbeiten.
Tragen wir bald alle Matte? Fürs kollektive Straßenbild wäre es zumindest kein großer Schaden, wenn die Haare ein bisschen nachwachsen. Das sagen jedenfalls die Stilkritiker. „Es ist eine gewisse Ermüdung eingetreten bei Frisuren, die an der Seite ausrasiert sind“, stellt der Buchautor Bernhard Roetzel fest. Er prognostiziert „generell eine Entwicklung hin zum längeren Haar“ – auch ohne Coronavirus.
Zerzaust Deutschland?
Er befürchtet nicht, dass Deutschland nun kollektiv zerzaust. Das Haar müsse ja auch erst mal wachsen. „Ausnahme sind höchstens die Frauen, die sich die Haare jede Woche vom Friseur legen lassen. Aber das ist eine aussterbende Tradition“, sagt Roetzel. Ein kritischer Punkt könnte nach etwa vier Wochen eintreten. „Vier Wochen ist ungefähr der Rhythmus, in dem man mit einem Fassonschnitt zum Friseur geht.“
Deutschland hat eine gewisse Tradition, sich im familiären Kreis die Haare zu stutzen. Stichwort: Topfschnitt. Oft gibt es eine Tante, die das kann und am Ende jede Frisur als „frech“ bezeichnet. „Es wird vielleicht zu einem Revival des Do-it-yourself-Haarschnitts kommen, also von Freunden oder der Familie“, meint Experte Roetzel. Wobei genau das in Corona-Zeiten nicht ratsam ist – die Zahl der physischen Kontakte soll auf ein Minimum reduziert werden.
Es schlägt aufs Gemüt
Das Ganze kann aufs Gemüt schlagen. „Eine gute Frisur unterstreicht die Kleidung und auch, dass man sich wohlfühlt“, gibt der Modeberater Andreas Rose aus Frankfurt/Main zu bedenken. Andererseits könne man bei fortschreitendem Wuchs auch tricksen. „Meine Nachbarin zum Beispiel hat sich die Haare geflochten, das habe ich heute Morgen gesehen“, sagt er. „Auch das ist schön.“

Soll trotzdem selbst geschnitten werden, etwa ein Pony, der ständig in die Augen fällt? Der wichtigste Tipp aus Sicht von Jens Dagné von der Friseurvereinigung Intercoiffure Mondial: Eine sehr gute Schere verwenden. Wer selbst nachschneiden möchte oder den Partner darum bittet, sollte nicht zur stumpfen Haushalts- oder Bastelschere greifen. „Schon eine semi-professionelle Schere quetscht die Haare und verursacht nach weiteren ein bis zwei Wochen Spliss.“
Styling kann manches retten
Dagné rät zum Überbrücken mit Styling. „Damit kann man schon viel machen.“ Bei einem kürzeren Haarschnitt reichen vielleicht schon Wachs und Gel, mit denen man der herausgewachsenen Frisur wieder etwas Struktur gibt. Für kräftige Ansätze und Stand auf den ersten fünf Zentimetern rät Dagné zu „Ansatzboostern“. Das sind Produkte, die in den Ansatz gegeben werden und diesen aufpolstern. Dadurch wirkt die gesamte Frisur voluminöser.
Bei meinen Haaren habe ich inzwischen die Styling-Versuche mit Gel aufgegeben. Das rettet jetzt auch nichts mehr. Meine Güte, hat der Kabarettist Urban Priol es schön. Der fixiert die Fusseln mit Haarspray, und fertig.
Mancher sucht in seiner Not Hilfe im Internet. Äußerst kreativ ist die Anleitung des YouTubers Fynn Kliemann: Bei ihm werden die Haare mit einem Staubsauger angesaugt und einer Schablone geschnitten.
Joshua Otto aus Berlin, 25, hat es nachgemacht und ist begeistert: „So bekommt man gut alle Haare auf eine Länge, nichts juckt oder kratzt.“ Die neue Frisur sei zwar chaotisch, passe aber viel besser zu seinem Typ als die früher geschniegelten Haare, sagt der ehemalige BWL-Student, der jetzt Tischler lernt. Seine Freunde seien begeistert. Seine Mutter habe die Frisur nur mit „Oh Gott!“ kommentiert.
„Ich sah aus wie ein Trottel“
Das hat die Berlinerin Beatrice Hübschmann schon oft erlebt. „Mal gelingt es, mal nicht. Ich sah schon aus wie ein Trottel. Aber Haare wachsen ja nach und es gibt Mützen“, sagt sie. Sie zeigt Videos ihrer Versuche auf Instagram und Tiktok.
Dass der Trend zum Selberschneiden Existenzen zerstöre, glaubt sie nicht. „Das Bäckerhandwerk stirbt ja auch nicht aus, nur weil einige Leute ihr eigenes Brot backen. Zum Haareschneiden braucht man Mut, und den bringen die meisten nicht auf“, ist sie überzeugt.
Die Friseure leiden
Doch die Friseure leiden sehr unter dem zweiten Lockdown. „Es ist tragisch, wenn die Politik so schnell entscheidet“, sagt Nicole Bohner, Friseurmeisterin in Radolfzell. Als am Sonntag vor Weihnachten beschlossen wurde, die Salons zu schließen, hätten sie und ihre Friseurinnen alle Kundinnen abtelefoniert und Montag und Dienstag von morgens bis abends gearbeitet. Seitdem ist Schluss, der Salon zu.
Ihr machen die vielen 450-Euro-Kräfte Sorgen, die keinen Anspruch auf Kurzarbeitergeld haben, und die alleinerziehenden Frauen, die nun mit 67 Prozent ihres Gehaltes auskommen müssen. Der Frust bei den Inhabern sei groß: „Wir haben alles gemacht und mussten trotzdem schließen.“
„Die Stimmung ist sehr schlecht“, sagt auch Marcel Obert, Innungsobermeister der Friseure in Waldshut am Hochrhein. Er glaubt nicht, dass die Coiffeure Anfang Februar wieder öffnen dürfen. Von den Überbrückungshilfen hätten viele einen Teil wieder zurückzahlen müssen, weil sie über einen Zeitraum von drei Monaten abgerechnet würden. Die aktuellen Corona-Regelungen findet Obert recht absurd: So dürften Lehrlinge in der Prüfung einem echten Modell die Haare schneiden. Ihm selbst sei das im Laden verboten.
Warum haben die Fußballer so perfekt frisierte Haare?
Was ihn wirklich verwundert, ist, dass trotz Friseur-Verbot viele Menschen mit frisch geschnittenen Haaren im Straßenbild zu sehen sind. „Damit steigt der Anteil der Schwarzarbeit noch weiter.“ Geradezu verärgert ist Obert über die stets akkurat frisierten deutschen Fußballer. Es könne wohl kaum sein, dass jeder eine frisierkundige Frau zu Hause habe.
Das ist derzeit übrigens die einzige legale Methode, zu einem Haarschnitt zu kommen. So ist es auch nicht erlaubt, den eigenen Figaro zum Hausbesuch zu bitten. Lediglich die angestammte Farbe darf man abholen und zu Hause selbst färben. Auch Frauen nach einer Krebstherapie können eine Perücke angepasst bekommen.
„Die Politiker reden alles schön“
Manuel Winter ist Obermeister der Friseurinnung Schwarzwald-Baar. Die von den Politikern groß versprochenen Überbrückungshilfen seien bei vielen Betrieben gar nicht angekommen, kritisiert er,. Das Beantragen sei kompliziert, selbst mithilfe eines Steuerberaters. „Es heißt, die Formulare sind nicht da“, sagt er. Sein bitteres Fazit: „Die Politiker reden alles schön.“
Schon im ersten Lockdown hätten viele Betriebe ihre Ersparnisse aufgezehrt. Den zweiten würden viele nicht überleben, sagt Winter. Für den Bereich Schwarzwald-Baar hat die Friseurinnung sich entschlossen, die praktische Frühjahrsprüfung zu verschieben. Denn die Lehrlinge hätten ja kaum Gelegenheit zum Üben gehabt.
Nicht umsonst drei Jahre gelernt
Obert und seine Kollegen hoffen, dass ihre Kunden ihnen die Treue halten, wenn die Salons wieder öffnen dürfen. Die Haarschneide-Videos im Netz sieht er aber skeptisch: „Man kann vielleicht anhand eines YouTube-Videos einen Motor auseinanderbauen und wieder zusammensetzen. Aber der Mechaniker hat das nicht umsonst drei Jahre gelernt“, sagt er.
Freitag, 15. Januar. Meine Haare wachsen und wachsen. Im Spiegel sehe ich jetzt aus wie eine schlechte Kopie der Publizistin Carolin Emcke. Aber was soll‘s. Hauptsache, die Friseure dürfen bald wieder öffnen.