Isabella Hafner

Samstag, 12 Uhr, Mittagshitze. Der Zug hat mich ausgespuckt und ich stehe am Bahnsteig von Pfronten mit Rad, Helm, gepolsterter Hose und Minimalgepäck, um gleich auf der alten Römerstraße Via Claudia Augusta an den Gardasee zu radeln. Ich habe mir den bisher heißesten Tag des Jahres ausgesucht.

Autorin Isabella Hafner.
Autorin Isabella Hafner. | Bild: Christian Hartmann

Wie hat sich Kolumbus gefühlt, bevor er aufgebrochen ist ins wilde Meer, um versehentlich einen neuen Kontinent zu entdecken? Ich fahre an einen Flecken Erde, den ich in- und auswendig kenne, aus unzähligen Familienurlauben als Kind. Nur fünf Tage und „nur“ über die Alpen. Aber über jene Mauer, hinter der sich für mich stets die Verheißung verbarg: in Form eines Stiefels, Spaghetti-Bergen, blauem Wasser, Gelato und der Capri-Sonne.

Im Auto zusammengepfercht

Wie oft saßen wir Geschwister zusammengepfercht im Auto auf der Straße Richtung Sonne, den Tony-Marshall-Hit schmetternd: „Auf der Straße nach Süden, der Sonne entgegen…“? Wie oft genoss ich es später, wenn im Zug der Schaffner nach München und Kufstein zum ersten Mal Franzensfeste „Fortezza“ nannte, Brixen „Bressanone“ – mit langem s, und aus Bozen „Bolzano“ mit einem „ahhhhh“ machte?

Tag 1 – kurz vor dem Fernpass.
Tag 1 – kurz vor dem Fernpass. | Bild: Isabella Hafner

Wie oft bewunderte ich vom Flugzeugfenster die weißen Spitzen der Dolomiten, die dalagen, als hätte jemand ein zerknülltes Taschentuch zwischen Italien und Deutschland fallen lassen. Diesmal wollte ich das Taschentuch – geschaffen vor 25 Millionen Jahren – nicht schnell überwinden. Sondern: Was in den Tälern liegt, sehen, riechen, hören.

Entlang des Lechs

Erleben, wie aus Deutschland Österreich wird, aus Österreich Südtirol und dann „richtig Italien“. Ich radle hinein in die Berge, vorbei an Kühen, durch Dörfer mit plätschernden Brunnen. Es geht entlang grüner Wiesen und des glasklaren Lechs. Nach Lermoos tauchen dann „Fernpass“-Schilder auf. Einer, der drei Pässe, auf 1270 Meter.

Glasklar – der Lech.
Glasklar – der Lech. | Bild: Isabella Hafner

Im 19. Jahrhundert haben einige Menschen – unter ihnen Romantiker wie Goethe – die Überzivilisation satt und suchen das Ursprüngliche. Sie beginnen zu reisen. Das irritierte viele andere. Warum sollte man freiwillig in Kutschen über holprige Wege rumpeln und dunkle Wälder durchqueren?

Bis dahin reisten Händler und Boten, Priester und Krieger; Handwerker gingen auf die Walz, Entdecker und Forscher suchten neue Erkenntnisse. Wer krank war, aber genügend Geld hatte, kurierte sich an Heilquellen wie im tschechischen Karlsbad oder im belgischen Spa.

Reste der Römerstraße

Auf Schotterkehren schraube ich mich den Waldhang hoch. Nach jeder Kehre entspannen sich die Muskeln leicht, um dann dem Programm weiter zu folgen. Mit den anderen keuchenden Radlern solidarisiere ich mich im Geiste; die, die mich überholen, ignoriere ich. Schließlich komme auch ich an – und blicke hinunter auf Schloss Fernstein und den türkisfarbenen See. Auch Reste der Römerstraße entdecke ich.

Irgendwo bei Imst – schöne Szenerie.
Irgendwo bei Imst – schöne Szenerie. | Bild: Isabella Hafner

Imst. Die erste Pension ist gebucht, die anderen werde ich spontan suchen. Glücklich über meine rund 80 Kilometer und kaputt schlage ich mir den Bauch mit Kässpatzen voll. Am Nebentisch sitzen zwei Rentner-Pärchen. Sie reden über ihre E-Bikes.

Von Urlaub zu Urlaub

Viele arbeiten nur von Urlaub zu Urlaub. Hier ein Wellness-Trip, da der Ski-Urlaub, über Ostern zum Wandern nach Mallorca, zehn Tage Cancún. Übers Wochenende in eine europäische Metropole fliegen: für viele wie Busfahren. Und kostet so viel wie die Bahnfahrt von Stuttgart nach München. Auch, weil das Kerosin nicht versteuert werden muss.

Reste der alten Via Claudia auf der alten Fernpassroute.
Reste der alten Via Claudia auf der alten Fernpassroute. | Bild: Isabella Hafner

Nächster Tag: Einzelne Kondensstreifen zerkratzen das Blau. In den Fliegern sitzen Passagiere, die vor einer Viertelstunde in Stuttgart gestartet sind und gleich auf einer Piazza Pizza essen werden. Ich bin froh, dass es heute nur 50 Kilometer sind; mein Steißbein... Die zweite Etappe führt durchs Inntal nach Landeck mit seinem Schloss.

Einmal Malle und zurück: 3000 Kilometer Autofahren

Fliegen hat einen Preis. Stuttgart – Mallorca hin und zurück verursachen rund 450 Kilogramm CO2 pro Person, wie die Online-Plattform Atmosfair berechnet, die gegen Geld entsprechend des eigenen Ausstoßes Bäume pflanzt. Für die 450 Kilogramm könnte man 3000 Kilometer mit einem Mittelklassewagen fahren, sie machen ein Viertel des CO2-Budgets aus, das jeder Mensch pro Jahr verbrauchen dürfte. Flüge richten im Himmel größere Schäden als andere Emissionen an.

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Atmosphärenforscher vermuten, dass der klimaschädliche Effekt des Flugverkehrs dem gesamten CO2-Ausstoß Indiens entspricht, dem drittgrößten Verursacher der Welt. 2018 stiegen Menschen 4,3 Milliarden Mal in den Flieger, sieben Prozent mehr als 2017. In immer mehr Ländern können sich Menschen das Fliegen leisten. 2015 gab es in China 264 Flughäfen – 10 Jahre davor 196.

Der Vinschger Wind bläst heftig

Ich fahre an Felswänden vorbei und durch viele Tunnel, hinter ins Dreiländereck Österreich-Schweiz-Italien, zur Zollstation Martina. Meditativ nehme ich eine Kehre des Reschenpasses nach der anderen. Geht es jemand schlecht, wünscht man ihm, dass es bergauf geht. Mir ginge es definitiv besser, es ginge endlich bergab. Mist. Oben in Nauders bläst mich mittags der Vinschger Wind – aus dem Südtiroler Vinschgau – fast um.

Oben angekommen – statt Belohnung, vorbei mit dem schönen Wetter! Wolken über dem Reschensee
Oben angekommen – statt Belohnung, vorbei mit dem schönen Wetter! Wolken über dem Reschensee | Bild: Isabella Hafner

Während mir lächelnde Radler entgegenkommen, strample ich frustriert, bis... Da! Der Kirchturm, der aus dem See ragt. Der noch an das Dorf erinnert, das hier mal war. Die grün-weiß-rote Flagge weht stolz im Wind, ich passiere die Grenze. Italien, ich komme! Dann regnet es, aber richtig. Ich trete bergab in die Pedale, Sturzbäche begleiten mich. Was bin ich froh, als endlich das mittelalterliche Glurns in Sicht ist. Schnell unter der Dusche, aufwärmen, unter die Decke. Hochgenuss!

Das Reisen als Akt der Freiheit

Die Geschichte des Reisens war in Europa ein Akt der Demokratisierung und Freiheit. Im Kaiserreich sind der Adel und das gehobene Bürgertum die ersten Touristen der Geschichte, etwa Kaiserin Sisi. Man macht Strandurlaub an der Nord- und Ostsee, geht wandern, radeln, genießt das Nichtstun oder macht Kulturreisen nach Österreich, Italien und Frankreich.

Goethe war natürlich mein Vorbild auf der Reise nach Italien.
Goethe war natürlich mein Vorbild auf der Reise nach Italien. | Bild: Isabella Hafner

Als im Nachkriegsdeutschland der Wohlstand wächst, zieht es immer mehr Urlauber an Riviera, Adria und die Côte d’Azur. Dann kommen Spanien und seine Inseln dazu, denn Neckermann und Tui bieten erschwingliche Flüge an.

Tag vier. Ich zuckle durch einen Endlos-Garten, das Vinschgau. Dann Meran: Palmen und Palazzi neben Geranien und rustikalem Alpenbaustil. Am Ende des Tals thront Burg Sigmundskron; dahinter muss Bozen sein. Hier mündet das Vinschgau ins Etschtal, durch das sich die Autos und Wohnwagen vom Brenner Richtung Süden schieben.

Eine Stunde im Bushäuschen

Ich fahre über die Strada del Vino, die Weinstraße. Den Kalterer See will ich sehen. Eine Stunde verbringe ich bei Platzregen in einem Bushäuschen neben einem alten Südtiroler, der mir Stories aus seinem Leben erzählt.

Ach Italien! Da möchte man sich sofort ans Ufer setzen. Und Goethe zitieren.
Ach Italien! Da möchte man sich sofort ans Ufer setzen. Und Goethe zitieren. | Bild: Isabella Hafner

Haben wir immer Fernweh, wenn wir unsere Koffer packen? Oder versuchen wir durch diese Fast-Food-artigen Trips, unser Leben zu kompensieren – das wir uns nicht zu ändern trauen? Was wäre, wenn wir fragten, warum wir reisen?

Wir können wählen, ob wir nach Asien fliegen oder Ähnliches in Europa suchen. Ob wir dieses Jahr eine Fernreise machen und dann ein paar Jahre in der Nähe bleiben. Ob wir ein nachhaltiges Hotel wählen. Vielleicht fördert die Politik irgendwann umweltverträgliche Reiseformen, anstatt den Flugverkehr zu subventionieren.

Wir sind übersättigt von Angeboten

Wir können uns die Zeit nehmen und eine große Reise machen, statt vieler kleiner Trips. Romantiker begannen zu reisen, weil sie auf der Suche nach einer besseren Welt waren, während sie die Welt um sich herum als überzivilisiert empfanden. Heute sind wir übersättigt von Angeboten, kotzen sie aus wie Kleinkinder, in die unentwegt Brei gestopft wird.

Der Etsch entlang bis zur Salurner Klaus‘... Das Lied im Kopf beim Radeln.
Der Etsch entlang bis zur Salurner Klaus‘... Das Lied im Kopf beim Radeln. | Bild: Isabella Hafner

Reisen wir besser, damit die Welt bereisbar bleibt. In „Egna“, also Neumarkt, schnattern Einheimische an der Bar Sätze, die Italienisch beginnen und Deutsch enden. Die Hymne der Südtiroler summend radle ich „der Etsch entlang bis zur Salurner Klaus‘“.

Der erste Spritz in Trento

Die von der Eiszeit geformten Felswände wirken wie Meeresklippen. Sie sind rötlicher als bei uns, der Wald darauf bläulich im Licht des Südens. Auf einigen stehen Burgen. Die Autobahnschilder sind grün, die Leitplanken rostig, dazwischen blühen Oleander. In Trento genehmige ich mir meinen ersten Spritz. Dann ein letzter Pass rüber zum Lago.

In Trient: richtiges Italienfeeling!
In Trient: richtiges Italienfeeling! | Bild: Isabella Hafner

Ich stehe an der Kuppe, in Nago. Knapp 400 Kilometer nach meinem Start im Allgäu. Unten Torbole und: der ruhig glitzernde See. Die Alpen umarmen ihn noch rechts und links und öffnen sich im Süden, um ihn der Po-Ebene freizugeben. Ich rolle los. Und fühle mich gelöst – nicht, weil ich in dem Moment merke, dass nur noch eine Bremse geht. Ich bin übern Berg.