Oktober 2023, Bergholz, Mecklenburg-Vorpommern: Auf einem Dorffest grölen die Besucher zur Melodie von Gigi D‘Agostinos „L‘Amour Toujours“ den Text „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus“. Ein Video verbreitet sich. Ein paar überregionale Medien berichten knapp, ein Landesminister kündigt Ermittlungen an.
Mai 2024, Kampen, Sylt: Auf einer Außenterasse eines Schicki-Micki-Schuppens grölen Besucher denselben Mist. Ein Video verbreitet sich. Das ganze Land ist empört, die Tagesschau berichtet, selbst der Kanzler schaltet sich ein.
Was für ein Unterschied, was für ein seltsames Messen mit zweierlei Maß. Man muss den Eindruck gewinnen: Teile des Landes haben offensichtlich überhaupt nicht begriffen, von wem die größte Gefahr für unsere Demokratie ausgeht.
Nicht nur ein Feier-Fehltritt
Und nein, das muss man gleich ausräumen, da mitzusingen ist nicht einfach nur ein Feier-Fehltritt. Natürlich sind nicht alle, die mitmachen, direkt Nazis. Und es gibt keinerlei Rechtfertigung, einzelne Teilnehmer öffentlich mit Klarnamen vorzuführen und ihre Leben für alle Zeiten zu versauen. Aber: Die Vorfälle sind auch nicht zu begründen mit einer der gerne herangezogenen Mischung aus Gruppenzwang und Alkohol, der Mischung aus Wohlstandslangeweile und dem Reiz des Verbotenen.
Wer noch ein Herz hat oder zumindest ein Hirn, der singt da nicht mit. Diese Worte sind klar erkennbar menschenverachtend. Daran ändern keine vier Bier etwas und keine fünf Aperol. Wer hier mitmacht, ist nachweislich offen für rechtsradikales Gedankengut.
Nur weil es Sylt ist?
Umso erstaunlicher, dass nur die Aktion in Sylt so einen Wirbel macht. Liegt es daran, dass das andere in Vorpommern war? Dass man hier die so bequeme Denkfigur des Nazi-Ossis bemühen konnte? Nach dem Motto: Immerhin singen sie es nur, dann schlagen sie nicht! Und auf der anderen Seite: Das gute Sylt, die sogenannte feine Gesellschaft. Aber sie haben doch ein renditestarkes Aktienportfolio und ein sauberes Erscheinungsbild, die sind rechts? Also das erschüttert mich!
Man kann die unterschiedliche Reaktion nur mit dieser riesigen Naivität erklären. Sie ist umso erstaunlicher, weil gerade Rechte im bürgerlichen Kostüm seit Jahren unsere Freiheit bekämpfen.
Remigrations-Vordenker Martin Sellner versucht für seine Identitäre Bewegung seit jeher gerade Studenten zu rekrutieren.
Ein Immobilienmakler adeliger Abstimmung plante mutmaßlich einen Staatsstreich. Er heißt Prinz Reuß und steht jetzt vor Gericht.
Es gibt ja sogar das exakte politische Gegenstück zur Sylter Sause: Maximilian Krah. Der wird zwar nur noch als Witzfigur dargestellt. Aber hinter dem Champagner-Populismus des AfD-Europa-Spitzenkandidaten steckt politisches Kalkül.
Hedonismus und Hetze – das Sylt-Video zeigt: Eine Zielgruppe ist vorhanden.
Gefährlichste Form rechter Triebe
Wir sehen in all diesen Erscheinungsformen, und immerhin erkennen es jetzt durch ein Partyvideo offenbar mehr Menschen, die gefährlichste Form rechten Treibens in Deutschland. Es geht aus von Menschen, die Geld haben, die allein schon dadurch Einfluss haben. Sie können die Dinge zum Allerschlechtesten bewegen. Aber über ihrem Körper ohne Herz tragen sie einen schicken Merinopulli, einen ganz dünnen.
In Sylt haben sie ihn ausgezogen, die Hülle des Anstandes fallen lassen. Und genau das muss dieses Land immer wieder aufs Neue verhindern. Nicht durch Denkverbote, nicht durch ein Tabu für jegliche Kritik, aber durch klare Grenzen des Sagbaren und Machbaren. Die Leute auf dem Partyvideo sind deswegen – jenseits der erwähnten medialen Verfehlungen – auch nicht „schon genug gestraft“, selbstverständlich müssen sie juristisch belangt werden.
Rechtsextremismus ist kein Problem von arm oder reich, von Ost oder West, von Vorpommern oder Sylt. Rechtsextremismus ist ein deutsches Problem. Rechtsextremismus ist unser Problem.