Die Mittagssonne strahlt auf den Marienplatz in Ravensburg: Eine Tasse Kaffee in der Sonne – gemeinsam mit der Familie. Zwei Frauen, Freunde, ein unruhiger Enkel, der nicht still sitzen will. Ein älterer Mann erhebt sich vom Tisch, geht ins Café, zahlt. Gleich geht es nebenan weiter. Im Landgericht. Sitzungssaal 3.

Zuvor hat Hartmut W. (Name geändert) bereits gestanden. Die beiden Frauen, mit denen er im Café sitzt, sind seine Opfer. Zwischen 2002 und 2011 soll W. sie in mindestens sieben Fällen missbraucht haben – darunter erzwungener Oralverkehr, Eindringen mit Fingern, das Anfertigen intimster Bilder und Videos.

Vor Gericht räumt der 60-Jährige alle Vorwürfe ein, gesteht sogar mehr Taten als angeklagt. Von einer „Suche nach Liebe“ spricht er, vom „Reiz des Unberührten“. Er habe „über die Stränge geschlagen“, sagt er. Auch weil seine Ehe unglücklich und unbefriedigend gewesen sei.

Die Dateien habe er zur Selbstbefriedigung genutzt, aber niemals verbreitet. Die anderen tausenden Dateien habe er im Internet gesammelt, aus Neugierde. Er habe alles Mögliche heruntergeladen ohne zu wissen, was darauf genau zu sehen sei.

Fall kam spät ins Rollen

Die ältere Stieftochter ist heute 32 Jahre alt. Sie wohnt noch immer im selben Haus wie W., ließ sich sogar kürzlich von ihm adoptieren. Auch am Prozesstag ist sie dabei – so wie ihre jüngere Schwester, die ihren Stiefvater schon einmal angezeigt hat. Das war 2012. Damals wurde das Verfahren eingestellt.

Und bei der jungen Frau, die heute selbst Mutter ist, blieb der Eindruck: Mir glaubt keiner. Erst als zehn Jahre später kam die Kripo zur Hausdurchsuchung und entdeckte ein Konvolut von Missbrauchsdarstellungen.

Er wurde schon einmal verurteilt

W. trat trotz Hausdurchsuchung und laufenden Ermittlungen weiter öffentlich auf. Verantwortung habe er stets übernommen, als Krankenpfleger, Ehrenamtlicher, Vaterersatz. Er habe ein Helfersyndrom, sagt er. Er ist in vielen Vereinen engagiert, ließ sich 2024 gar für einen Listenplatz im Gemeinderat aufstellen – da war er bereits in erster Instanz verurteilt. Im Juli 2023 verhängte das Amtsgericht Tettnang zwei Jahre und vier Monate Haft wegen Besitzes kinderpornografischer Dateien. Nun geht es vor dem Landgericht auch um die Missbrauchstaten.

Das Urteil des Amtsgerichts ist nicht rechtskräftig. Die Berufung läuft, in Haft saß der Mann nie. Sein Bundeszentralregister weist bis heute keinen Eintrag aus.

Ein Video landete in der Dropbox

Die Ermittlungen begannen nach einem Hinweis des US-amerikanischen National Center for Missing and Exploited Children (NCMEC). W. hatte sich Ende 2021 einen neuen Laptop gekauft, wollte Dateien vom alten auf den neuen übertragen. Dazu nutzte er den digitalen Speicherdienst Dropbox. Eine von W. übertragene Datei – ein Missbrauchsvideo – wurde automatisiert gemeldet.

Im Mai 2022 durchsuchte die Kripo dann seine Wohnung in Friedrichshafen. In einem verschlossenen Kellerraum lagen Festplatten, USB-Sticks, Laptops, Kameras, ein Greenscreen. Tausende Dateien, darunter Aufnahmen schwersten Missbrauchs an Kleinkindern. Auch Bilder von ihm selbst mit den beiden Mädchen wurden gefunden.

Aus den Augen, aus dem Sinn

Vor dem Landgericht erklärt W., der Raum sei zu Pandemiezeiten als Schlaf- und Arbeitszimmer genutzt worden. Das Material habe er vergessen: „Aus den Augen, aus dem Sinn.“ In seiner Aussage berichtet er zudem, als Kind selbst Opfer geworden zu sein – auf einem Campingplatz, als er einem Erwachsenen in den Mund urinieren musste.

Der psychiatrische Gutachter Hermann Assfalg attestierte dem 60-Jährigen keine pädophile Störung, aufgrund der Vielzahl an Bildern von Kindern nur eine „gewisse Ansprechbarkeit“. Im Kern gehe es hier um Inzest-Taten. Der häusliche Missbrauch sei häufig eine Ersatzhandlung, wie auch hier wohl. Ersatz für eine Partnerschaft. Der Friedrichshafener sei aber voll schuldfähig.

Später Täter-Opfer-Ausgleich

Am ersten Verhandlungstag sagten beide Frauen unter Ausschluss der Öffentlichkeit aus. Am zweiten Prozesstag wurde deutlich: Die heute 32-Jährige scheint an seiner Seite zu stehen, auch das Verhältnis zur Jüngeren soll intakt sein.

Der Vorsitzende Richter merkt an: „Das beschäftigt Opfer, wenn man ihnen nicht glaubt.“ Als die Jüngere 2021 erneut aussagte, schrieb W. ihr eine Nachricht: Sie solle keine Anzeige erstatten. Er habe ihr doch immer geholfen – das könne er nicht mehr, wenn er im Gefängnis sitze.

Kurz vor Prozessbeginn kam es zu einem Täter-Opfer-Ausgleich: W. schrieb den Frauen einen Brief, zahlte je 3000 Euro und kündigte an, sich behandeln zu lassen. Und bat öffentlich um Verzeihung. Er habe bereits Kontakt zur Initiative „Kein Täter werden“ aufgenommen.

Die Kammer verurteilte den Mann zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten. Richter Bernhard sprach von einem ungewöhnlichen Fall, gerade weil zwischen Täter und Opfer eine intakte Beziehung besteht.

Häufig brechen Opfer bei ihrer Aussage in Gegenwart des Täters zusammen, können nicht mit ihm in einem Raum sein. Hier nicht. Schwere Folgen habe das Gericht bei den Frauen nicht feststellen können. Das habe man so hinzunehmen – auch wenn durchaus wirtschaftliche Abhängigkeiten bestehen. Aber auch das habe man strafmildernd berücksichtigt, ebenso den Täter-Opfer-Ausgleich.

Ersatz im Kinderzimmer gesucht

Die Einzeltaten, die teils schon mehr als zwanzig Jahre zurückliegen, mussten bei der Strafzumessung unterschiedlich gewertet werden. Denn das Sexualstrafrecht sei immer wieder verschärft worden. Sonst wäre die Strafe wesentlich höher ausgefallen.

Der 60-Jährige habe keine schwere pädophile Störung, eher eine Neigung, die man nicht ausknipsen könne. Aber derjenige müsse dann Strategien entwickeln, diesen Neigungen nicht nachzugehen. Er habe sich Ersatz gesucht, wenn es in der normalen Beziehung nicht lief. Und den Ersatz bei schwächeren, bei leichter manipulierbaren Kindern gesucht.

Angeklagter kann nach Hause fahren

Das Urteil ist nicht rechtskräftig. Einen Haftbefehl hat das Gericht nicht verhängt. Der Angeklagte stelle sich den Verfahren. Darum verlässt der 60-Jährige das Landgericht auf freiem Fuß. Und kann in das Haus im Bodenseekreis fahren, wo er mit seiner Adoptivtochter lebt. Sie hatte dem Gericht auch gesagt, dass ihr Vater nicht in Haft kommen soll.