Ralf Göhrig

„Offiziell endet der Krieg heute Nacht um 12 Uhr. Es ist heute ein schöner Maientag, sommerlich warm. Man meint hier in unserem kleinen Ländchen, es sei nie Krieg gewesen, so friedlich liegen die Felder und Wälder, die Ebenen und Berge in der Maiensonne Es ist 9 Uhr abends. Eben beginnen in der Schweiz die Glocken, zu läuten. Aus dem Radio hören wir die Glocken des Berner Münsters. Die Welt dankt Gott, dass der Krieg zu Ende ist.“ Dies schrieb der Lottstetter Pfarrer August Hilser in sein Tagebuch. Die Menschen im Jestetter Zipfel dachten, das Schlimmste sei überstanden, doch am 14. Mai gegen 19 Uhr schlug eine Nachricht ein, die die Menschen im ehemaligen Zollausschlussgebiet bis heute bewegt.

Der Weg der Deportierten führte in den Schwarzwald.
Der Weg der Deportierten führte in den Schwarzwald. | Bild: Archiv Gemeinde Jestetten

An diesem 14. Mai 1945, einem Dienstag, verbreitete sich am Abend die Nachricht wie ein Lauffeuer: Die Bewohner des Jestetter Zipfels mussten ihre Heimat verlassen. Die Ortspolizisten, Leo Straub in Jestetten, Willi Straub in Lottstetten sowie Bürgermeister August Altenburger hatten die traurige Aufgabe, die Nachricht durch „Ausschellen“ zu verkünden. Bereits am nächsten Morgen, gegen 8 Uhr sollte der Abmarsch erfolgen. „Ungläubig, erschüttert und erschreckt hörten die Bewohner diesen Befehl“, heißt es in der Jestetter Chronik von 1995.

Die Menschen mussten sich in der Nacht überlegen, was sie alles mitnehmen konnten. Meist war die Transportmöglichkeit der begrenzende Faktor. Nur die wenigsten verfügten über große Wagen mit den entsprechenden Zugtieren. Wer Glück hatte, fand bei Verwandten mit größerem Tierbestand entsprechende Unterstützung. Die meisten Bewohner des östlichen Landkreises verfügten jedoch weder über große Wagen noch über geeignete Tiere. Allenfalls konnte ein Handwagen oder gar ein Kinderwagen gefüllt werden. Wie die letzte Nacht im eigenen Haus für diese Menschen ausgesehen hat, mag man sich gar nicht vorstellen. An Schlaf war vermutlich nicht zu denken.

Dieses Votivbild von Siegfried Fricker stammt aus dem Jahr 1951 und gibt ungefähr einen Eindruck vom Auszug aus dem Jestetter Zipfel.
Dieses Votivbild von Siegfried Fricker stammt aus dem Jahr 1951 und gibt ungefähr einen Eindruck vom Auszug aus dem Jestetter Zipfel. | Bild: Archiv Gemeinde Jestetten

Gegen 8 Uhr am nächsten Morgen versammelten sich die Menschen auf den Straßen, bis zuletzt gab man sich der Hoffnung hin, die Aktion würde noch gestoppt, alles sei nur ein böser Traum oder ein schlechter Scherz – vergebens. Um etwa 10.30 Uhr setzte sich der Trek in Bewegung, der insgesamt aus 3500 Personen bestand und auf eine Länge von vier Kilometern angewachsen war, begleitet von französischen Soldaten.

Die Bekanntmachung vom 14. Mai 1945.
Die Bekanntmachung vom 14. Mai 1945. | Bild: Archiv Gemeinde Jestetten

Ausgenommen waren Schweizer, etwa 20 Familien, die zum Teil seit Jahrhunderten hier ansässig waren. So auch die 1944 geborene Elvira Sperling, die sich nicht an das Geschehen erinnert, doch aus Erzählungen ihres Vaters, Hermann Gehring, weiß, dass es für die Zurückgebliebenen kein Zuckerschlecken war. Die Grenze zur Schweiz war geschlossen und selbst für die Schweizer Staatsbürger war das Überqueren der Grenze verboten. Als sichtbares Zeichen, dass eine Familie berechtigt war, im Jestetter Zipfel zu bleiben, war eine schweizerische Fahne aufzuhängen. So jedenfalls erzählt Elvira Sperling. Die Fahne ihrer Familie hatte sie in all den Jahren sicher verwahrt und präsentierte sie nun voller Stolz.

Elvira Sperling, geb. Gehring und ihre Familie hatten das Glück als schweizerische Staatsbürger in Jestetten bleiben zu dürfen. Das Bild ...
Elvira Sperling, geb. Gehring und ihre Familie hatten das Glück als schweizerische Staatsbürger in Jestetten bleiben zu dürfen. Das Bild zeigt die Originalflagge, die im Sommer 1945 vor dem Haus der Gehrings hing. | Bild: Ralf Göhrig

Gleichgültig welchen Beruf die Schweizer Bürger hatten, mussten sie sich um die Landwirtschaft kümmern, was nicht immer einfach war und aufgrund der großen Fläche auch nicht zu bewerkstelligen war. Daher ließen es die französischen Besatzer auch zu, dass vorübergehend einige der Deportierten zu Arbeitseinsätzen zurück in den Jestetter Zipfel durften. Arthur Schneider, einer der Zurückgeholten, schrieb in seinem Tagebuch: „10.06.1945: Wortlos fuhren wir in Jestetten ein, trostlos war der fast menschenleere Ort, Gras überwucherte die Plätze vor den verlassenen Häusern. Zurückgelassene Haustiere, teilweise abgemagert und schmutzig, bettelten um Futter.“

Aufenthaltsgenehmigung für das Sperrgebiet.
Aufenthaltsgenehmigung für das Sperrgebiet. | Bild: Archiv Gemeinde Jestetten

Leider sind heute die meisten Zeitzeugen gestorben und diejenigen, die noch leben, waren damals Kinder. Einer der Deportierten, der damals zehnjährige Helmut Hamm, erinnert sich noch gut and den Abend, als Leo Straub das Unheil verkündete. „Ich war gerade im Garten beim Gießen, als ich die Glocke des Ortspolizisten hörte.“ Hamm weiß noch, dass seine Mutter einige wertvollen Dinge zur Familie Künzli brachte, die als Schweizer in Jestetten bleiben konnte. Ohne an Schlaf zu denken, packten die Hamms – der Vater war noch im Krieg – ihre Habseligkeiten zusammen und luden sie auf einen Pritschenwagen. Vieh war keines vorhanden, also war der Hänger mittels Gurt, der über den Rücken gelegt war, von der Familie zu ziehen.

Der Weg

Helmut Hamm setzte sich auf ein Damenfahrrad, das ihm französische Soldaten bald abnahmen. „Die Franzosen bewachten uns schwer bewaffnet, das Schlimmste aber war, dass wir nicht wussten, ob wir jemals wieder zurück nach Hause dürfen“, erinnert sich Hamm. Nach zwei Tagen, am ersten Abend hatte man in Lauchringen übernachtet, traf die Familie Hamm in Ühlingen ein, wo sie die nächsten Monate, bis in den Herbst hinein, bleiben sollte.

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Am 17. Juli kam überraschend der Befehl, dass 100 Familien zurück in den Jestetter Zipfel durften. Es dauerte allerdings noch eine ganze Weile, bis alle Deportierten wieder die Erlaubnis hatten, in den Jestetter Zipfel zurückzukehren. Die Gemeinde Jestetten ließ zum Dank für die glückliche Rückkehr den Bildstock am gleichnamigen Weg erneuern und die Lottstetter versprachen eine jährliche Pilgerfahrt nach Einsiedeln, um für die Heimkehr zu danken. Die beiden Gemeinden, Jestetten und Altenburg, schlossen sich diesem Versprechen an und bis heute findet im Herbst diese Wallfahrt statt.

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Warum es zu dieser „Evakuierung“ gekommen ist, war lange Zeit unbekannt und bot viel Raum für Spekulationen. Von einem Gebietstausch zwischen Frankreich und der Schweiz war die Rede oder auch der Kampf gegen versteckte SS-Einheiten in den Jestetter Wäldern eine beliebte These. Tatsächlich haben die Franzosen das Gebiet, wie auch Gailingen und Wiechs am Randen, räumen lassen, um die Grenzüberwachung im besetzten Gebiet zu vereinfachen.