Herr Starke, Italien hat seine Häfen weitgehend dicht gemacht, humanitäre Organisationen werden kriminalisiert, Retter von Prozessen und Haft bedroht. Ging es Ihnen auch schon wie Carola Rackete und der Sea-Watch?
Unser Rettungsschiff war das erste, dem im vergangenen Jahr im Juni die Einfahrt in einen italienischen Hafen verboten wurde. Die Situation hat uns dazu gezwungen, dass wir über vier Tage nach Valencia fahren mussten. Sie müssen sich vorstellen: Wir hatten 630 Menschen an Bord. Wenig später wurden wir in Italien wegen angeblich falscher Mülltrennung angeklagt.
Bis vor wenigen Tagen hatten Sie kein Schiff mehr. Warum lief die Aquarius seit Oktober nicht mehr aus?
Der Grund ist, dass auf unsere Arbeit politischer Druck ausgeübt wurden. Unserem damaligen Schiff, der „Aquarius“, zweimal die Flagge entzogen wurde, einmal die von Gibraltar und einmal die von Panama. Die Flagge wird normalerweise nur entzogen, wenn ein Schiff nicht mehr hochseetauglich ist oder wenn es in Piraterie involviert ist – beides traf auf die „Aquarius“ natürlich nicht zu. Hintergrund war offenbar, dass die italienische Regierung wirtschaftlichen Druck auf die Flaggenstaaten ausgeübt hat.
Mit der „Ocean Viking“ legen Sie sich nun wieder mit Italien an. Ab wann ist Ihr Schiff einsatzbereit?
Wir sind am vergangenen Donnerstag in Stettin in See gestochen. Im Moment befindet sich die „Ocean Viking“ auf dem Transit ins Mittelmeer, wo wir so schnell wie möglich wieder im Einsatz sein wollen. Uns mit Italien anzulegen, ist nicht unser Ziel. Uns geht es nur darum, Menschen zu retten.
Die Information, dass Sie ein neues Schiff am Start haben, haben Sie bis zuletzt zurückgehalten. Warum so geheimnisvoll?
Es gibt Personen, die etwas gegen unsere Arbeit haben – nicht nur in Italien. Deshalb bestand das Risiko, dass uns findige Staatsanwälte lahmlegen und das Schiff noch in Polen am Auslaufen gehindert wird.

Wie viele Rettungsschiffe sind im Mittelmeer sonst noch im Einsatz im Moment?
Zur Zeit ist nur das Rettungsschiff der spanischen Organisation Pro Activa Open Arms dort unterwegs. Das Rettungsschiff von Sea-Eye, die „Alan Kurdi“, wird gerade im Heimathafen Palma de Mallorca repariert. Die „Sea-Watch 3“ liegt beschlagnahmt, beziehungsweise für die Beweisaufnahme im Hafen von Licata, Sizilien. Beschlagnahmt ist auch die „Alex“ von der Organisation Mediterranea Saving Humans, die vorige Woche in Lampedusa eingefahren ist. Sprich: Es ist kaum noch jemand da, der sich vor Ort um Seenotrettung kümmern würde. Was mich zusätzlich besorgt, ist, dass Handelsschiffe, die auch zum Retten völkerrechtlich verpflichtet sind, inzwischen kaum mehr retten, weil sie sich ein Warten vor geschlossenen Häfen nicht leisten können.
Wie läuft ein Rettungseinsatz ab?
Ich hole mal ein bisschen aus: Bis vergangenen Sommer noch wurden wir von der italienischen Rettungsleitstelle informiert, wenn jemand in Seenot war: „Wer in der Nähe ist, bitte retten!“ In einem zweiten Schritt wurde dann überlegt, wo der nächste sichere Hafen ist. Mittlerweile haben die Italiener diese Verantwortung an Libyen übertragen. Das heißt ganz konkret: Die zivilen Retter bekommen keine Tipps mehr und suchen das Meer mit dem Fernglas ab.

Dann ist es pure Glückssache, ob die Retter jemanden aufgreifen.
Genau, wir suchen die Nadel im Heuhaufen. Wenn wir ein solches Boot entdecken, bleiben wir ein paar Hundert Meter davor stehen, weil wir nicht wollen, dass die Menschen in Panik ins Wasser springen und versuchen, zu uns zu schwimmen. Das wäre zu gefährlich. Wir lassen dann unsere Schnellboote ins Wasser und nähern uns mit diesen. Das ist der kritischste Moment, weil dann Panik entstehen kann. Wir machen erstmal eine Ansprache auf Englisch, stellen klar, dass wir zivile Retter sind und nicht die libysche Küstenwache, vor der die meisten enorme Angst haben. Dann werden Rettungswesten verteilt, Frauen, Kinder und Verletzte dürfen als Erste auf die Schnellboote. Wenn sie auf dem Mutterschiff sind, übernimmt Ärzte ohne Grenzen die Betreuung.
Wie ist der Zustand der Geflüchteten?
Oft sehr schlecht. Teilweise haben sie Verletzungen aus Libyen, oft sind sie tagelang im Mittelmeer unterwegs, ohne Sonnenschutz und Wasser. Eine weitere große Verletzungsquelle ist das Gemisch aus Benzin und Salzwasser, das die Menschen auf der Haut haben können und das zu schweren Verätzungen führt.
Warum nehmen die Migranten das Risiko auf sich?
Ich habe zwischen 2013 und 2016 im Kontext der Syrien-Krise in der Türkei und im Irak gearbeitet und dort mit sehr vielen Menschen gesprochen, die vor IS-Schergen geflohen sind. Die haben mir gesagt: Bevor ich mit meiner Familie gefoltert oder getötet werde, versuche ich zu fliehen, und wenn ich dabei ertrinke, hab ich es zumindest versucht. Was wir von unseren Flüchtlingen hören, die von Libyen starten: Sie sind oft schon jahrelang unterwegs und in Libyen haben sie oft Vergewaltigung, Versklavung und Gefängnis erlebt. Sie treten die Flucht nach vorn an, als letzter Ausweg, als letzte Hoffnung, um durch den Weg übers Mittelmeer ihr Leben zu retten.
Sind die Menschen, die Sie retten, in der Mehrheit klassische Flüchtlinge, die aus politischen oder humanitären Gründen ihr Land verlassen haben, oder suchen sie in Europa ein besseres Leben?
Mir ist es wichtig zu betonen: Wir sind ein humanitärer Akteur. Wenn Sie einen Autounfall haben, kommt der Krankenwagen, egal ob sie vielleicht zu schnell gefahren sind. Das gleiche gilt für uns: Menschen sind in Seenot, sind vom Ertrinken bedroht. Aus welchem Grund sie den Weg übers Mittelmeer antreten – diese Frage stellt sich für uns nicht. Für uns ist nur klar: Wir lassen diese Menschen nicht ertrinken. Wir bringen sie an einen sicheren Hafen.
Könnte der nicht auch in Afrika liegen?
Klar ist: Libyen ist aus den geschilderten Gründen kein sicherer Hafen. In Tunesien gibt es kein Asylsystem, das heißt, sie können abgeschoben werden, ohne dass ihre Schutzbedürftigkeit geprüft würde.
Wäre die Sache für Sie anders, wenn in Afrika ein europäisches Asylzentrum eingerichtet werden würde, wie es zur Zeit mal wieder diskutiert wird?
Als Seenotrettungsorganisation arbeiten wir auf Grundlage des Seevölkerrechts. Dieses benennt klare Kriterien, die erfüllt sein müssen, damit gerettete Menschen an einen sicheren Ort gebracht werden können. Solange diese Kriterien in den nordafrikanischen Ländern nicht erfüllt sind, werden wir niemanden dorthin zurückbringen.
Das klingt sehr hypothetisch. Sie haben Zweifel, dass das je gelingen wird?
Genau. Die Tunesier sagen bislang eben: Das ist das Problem von Europa, bitte kümmert euch darum.
Ihnen wird auch in Deutschland der Vorwurf gemacht, Sie würden den Schlepperbanden in die Hände spielen. Was sagen Sie dazu?
Meine Entgegnung ist: Was heißt das im Umkehrschluss? Können wir uns als Europäer erlauben, weitere Tausende von Menschen ertrinken zu lassen, bis es sich mal ins entlegenste afrikanische Dorf herumgesprochen hat, dass es keine Rettungsschiffe mehr gibt? Das wollen wir doch nicht, da herrscht große Einigkeit. Zweitens: Die These vom sogenannten Pull-Faktor – also dass die Rettung dazu führt, dass mehr Menschen kommen – ist nicht belegt. Dagegen ist klar erwiesen, dass die Zahl der Toten enorm steigt, sobald weniger Rettungsschiffe unterwegs sind.
Was erwarten Sie von der EU und von Deutschland?
Wir erwarten von der Europäischen Union ein Seenotrettungsprogramm. Die EU muss sich dafür zuständig fühlen, Seenotrettung in die eigene Hand zu nehmen. Zweitens: Es muss eine verlässliche Aufnahme der geretteten Menschen geben – zeitnah an einem sicheren Hafen. Die EU hat es noch immer nicht geschafft, ein Bündnis des Hilfsbereiten zu etablieren. Das nächste Innenministertreffen zum Thema soll nun Anfang September stattfinden – das ist uns zu spät.
Was bringt es eigentlich, wenn Kommunen sich zu sicheren Häfen erklären und sagen, wir nehmen 40 Flüchtlinge auf? Kommen die dort dann auch hin, oder ist das mehr ein symbolischer Akt?
Es sind mittlerweile 60 Städte in Deutschland, die sich zu sicheren Häfen erklärt haben – unter anderem auch Konstanz, worauf ich besonders stolz bin. Das heißt, sie sind bereit, gerettete Menschen aufzunehmen. Allerdings beharrt das Innenministerium darauf, für die Verteilung der Flüchtlinge selbst zuständig zu sein. Das heißt, dass es im Moment vor allem ein politisches Statement ist, allerdings ein sehr wichtiges. Ich denke schon, dass sich die Kommunen damit Gehör verschaffen und dass darauf dann auch die große Politik reagiert.
Gegen Carola Rackete, die Kapitänin der Sea-Watch 3, wird weiterhin ermittelt. Was meinen Sie: Hat sie alles richtig gemacht?
Ich bin überzeugt, dass sie in der Situation nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt hat. Ein gutes Zeichen ist auf jeden Fall, dass die Richterin in Agrigento den Hausarrest aufgehoben hat, weil Carola Racketes Handeln rechtsmäßig war.
Zur Person
David Starke, 36, ist seit April Geschäftsführer der deutsch-italienisch-französischen Organisation SOS Méditerranée in Deutschland. Zuvor war der studierte Sozialpädagoge lange in der humanitären Hilfe in Sri Lanka, in Pakistan, später in der Türkei und im Irak tätig. Starke stammt aus Singen, machte Abitur am Friedrich-Wöhler-Gymnasium und lebt inzwischen in Berlin. Er ist verheiratet. (rom)