Herr Ruhenstroth-Bauer, Sie setzen sich für den Schutz von Flüchtlingen ein. Sind Sie ein Gutmensch?

Peter Ruhenstroth-Bauer: Ein Gutmensch zu sein, gilt ja inzwischen als etwas Schlechtes. Ich sehe das anders. Ein Gutmensch ist für mich jemand, der Humanität und Menschenrechte hochhält, der Solidarität und Schutz für seinen Nächsten – egal, ob das der Nachbar ist oder jemand, der in der Mitte Afrikas lebt – für wichtig erachtet. Ja, dann bin ich ein Gutmensch.

Die Zahl der Menschen, die zur Flucht gezwungen werden, steigt Jahr für Jahr. Was läuft falsch in dieser Welt, dass wir diese Entwicklung nicht bremsen können?

Dazu müssen wir nur auf Länder schauen, aus denen die meisten Flüchtlinge kommen. Aus Afghanistan mussten etwa 6,5 Millionen Menschen fliehen. Syrien haben 6,3 Millionen Menschen verlassen.

Peter Ruhenstroth-Bauer – auf dem Foto in einem ukrainischen Schutzraum – sagt: 122 Millionen Menschen sind derzeit auf der Flucht.
Peter Ruhenstroth-Bauer – auf dem Foto in einem ukrainischen Schutzraum – sagt: 122 Millionen Menschen sind derzeit auf der Flucht. | Bild: UNO-Flüchlingshilfe.

In Venezuela – von dessen Krise wir hier in Europa kaum etwas mitbekommen – haben sich 6,1 Millionen Menschen auf den Weg gemacht. Aus der Ukraine sind 6 Millionen Menschen geflohen. Durch den Konflikt im Sudan sind fast 13 Millionen Menschen auf der Flucht. Es sind also Krisen, Gewalt und kriegerische Auseinandersetzungen.

In anderen Worten: In all diesen Ländern wird das Leid von Menschen verursacht, vom Machthunger Einzelner. Ist das nicht frustrierend?

Ja, das ist frustrierend. Als ich im Jahr 2017 angefangen habe bei der Uno-Flüchtlingshilfe zu arbeiten, gab es 68,5 Millionen Menschen, die auf der Flucht waren. Heute sind es über 122 Millionen. Und selbst diese Zahl wird weiter steigen. Das liegt an der Politik.

Aber es gibt auch Licht am Ende des Tunnels, zumindest ein bisschen. Zum Beispiel in Syrien, wo Diktator Baschar al-Assad von der Macht vertrieben wurde. Das heißt allerdings nicht, dass nun alle syrischen Flüchtlinge ganz schnell wieder in ihre Heimat zurückkehren können und werden. Jeder, der sich etwas mit Syrien beschäftigt, weiß, dass viele Städte komplett zerstört sind. Es ist viel Wiederaufbauarbeit nötig. Erst wenn die Menschen wissen, dass sie auch sicher sind, werden sie zurückkehren. Was übrigens viele sehr gerne wollen. Deshalb suchen die meisten Flüchtlinge in der unmittelbaren Nähe ihrer Heimat Schutz.

In Deutschland ging unmittelbar nach dem Sturz von Assad die Debatte los, wann man syrische Flüchtlinge zurückschicken könne. Wie schätzen Sie das ein?

Ich finde es unmenschlich, wenn so etwas 48 Stunden nach dem Abdanken des Regimes gefordert wird. Es ist unmenschlich, weil jeder und jede weiß, wie es in diesem mehr als zehn Jahre von einem Bürgerkrieg gebeutelten Land aussieht. Ich musste allerdings auch schmunzeln, als sich, gleich nachdem diese Forderung geäußert wurde, die Krankenhausgesellschaft gemeldet hat und genau davor gewarnt hat.

In Syrien kehren vor wenigen Tagen etwa 60 vertriebenen Familien nach mehr als fünf Jahren in Lagern in Kafr Sijna, südlich von Idlib, ...
In Syrien kehren vor wenigen Tagen etwa 60 vertriebenen Familien nach mehr als fünf Jahren in Lagern in Kafr Sijna, südlich von Idlib, in ihr zerstörtes Dorf zurück. | Bild: Ghaith Alsayed

In Deutschland arbeiten 5800 syrische Staatsbürger als Ärzte, viele Krankenhäuser sind auf sie angewiesen. Vor wenigen Wochen habe ich einen Taxifahrer getroffen, einen syrischen Vater von zwei Kindern. Er will, dass seine Kinder hier die Schule fertig machen – Bildung ist der Schlüssel, das eigene Leben in die Hand zu nehmen, sagt er. Und er will, dass er in Syrien sicher leben kann. Der Mann glaubt, dass das in drei bis vier Jahren der Fall sein könnte. Der UNHCR, das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, wird das mit seiner Arbeit vor Ort unterstützen – und jeder kann mit einer Spende einen Beitrag leisten.

In den öffentlichen Debatten ist inzwischen von Empathie und Mitleid kaum mehr etwas zu merken. Ist uns die Menschlichkeit abhandengekommen?

Die öffentliche Debatte über Flucht und Migration ist in Deutschland in eine Schieflage geraten. Demokratische Parteien liefern sich mit gesichert Rechtsextremen einen verbalen Wettlauf, wer noch mehr fordern kann, aus Sorge, dass ihnen Wählerinnen und Wähler weglaufen. Besser wäre es, sehr konkret zu sagen, was passiert.

Die Asylanträge in Deutschland sind im vergangenen Jahr deutlich zurückgegangen. Wer hier von Katastrophen spricht, sollte sich erst einmal die Fakten anschauen. Leider überdecken diese Reden die Empathie, die es bei vielen Menschen sehr wohl noch gibt. Es gibt viele Menschen, die unheimlich engagiert sind. Wir sprechen nicht mehr über die Willkommenskultur, aber ich sehe eben ganz viele Initiativen, die sie praktizieren. Deshalb müssen wir den Blick auch einmal auf das richten, was sehr gut läuft.

Meine Erfahrung ist, dass viele Menschen kaum noch Interesse haben an den unzähligen Krisen der Welt. Ukraine, Syrien, Nahost, Sudan – sind die Leute vielleicht einfach überfordert?

Das ist sicher so. Es ist vielleicht ein persönlicher Schutzreflex, auch einmal Abstand zu nehmen. Durch die sozialen Medien erfahren wir sehr schnell, wenn irgendwo etwas passiert, selbst kleine Probleme wirken da schnell groß und kaum lösbar. Deshalb gibt es ja demokratisch gewählte Politikerinnen und Politiker, die Lösungen entwickeln müssen.

Deutschland ist die drittstärkste Wirtschaftsnation der Welt und hat schon allein deshalb eine Verpflichtung gegenüber Schwächeren. Wenn wir jetzt nicht handeln, werden wir viel größere Herausforderungen bekommen. Es ist wie mit den Brücken: Wir haben sie lange verfallen lassen, nun müssen sie mit viel Geld saniert werden.

Die neue Bundesregierung versucht es eher mit Abschreckung. Selbst Menschen, die um Asyl bitten, werden zurückgewiesen. Wie beurteilen Sie das?

Das macht uns sehr, sehr große Sorgen. Die UNHCR-Repräsentantin in Deutschland, Katharina Thote, hat sehr klar gemacht, dass Deutschland seit vielen Jahrzehnten einer der engsten Partner des UN-Flüchtlingshilfswerks ist – sie aber auch sehr besorgt ist über die aktuelle Entwicklung, keine Asylanträge mehr an den Landesgrenzen anzunehmen.

Diese sehr berechtigte Sorge teile ich. Frau Thote hat die Bundesregierung aufgefordert, sich an die europäischen Regeln zu halten. Es war ein sehr klarer Appell. Der UNHCR ist nicht politisch motiviert, für ihn steht die Humanität im Mittelpunkt.

Deutschland ist nur ein Akteur in Europa, der sich abschotten will. Man hofft ja sogar auf einen Dominoeffekt an den Grenzen, der Flüchtlinge abhält.

In Ländern wie den Niederlanden, Schweden, Dänemark, Österreich, Polen, Ungarn und der Slowakei hat sich die Stimmung gegenüber dem Thema Flucht und Migration deutlich verschärft. Das ist ein großes Problem.

Ich empfinde es als unanständig, zu glauben, dass diese Menschen halb Afrika durchqueren, sich als Nichtschwimmer in einem Boot übers Mittelmeer schippern lassen, um dann bei uns Sozialleistungen zu erhalten. Diese Menschen müssen vor Ort unterstützt werden. Der UNHCR versucht, zu unterstützen – das kann er aber nur, wenn er das Geld dazu hat. Leider erlebt die Organisation gerade ganz, ganz harte Zeiten.

Unter anderem die USA haben ihre Mittel massiv gekürzt. Welche Folgen hat das?

Es sind leider nicht allein die USA, auch andere Länder haben ihre Hilfen eingefroren oder planen, das zu tun. Die chronische Unterfinanzierung war ja schon lange ein Problem. Für viele Menschen wird das Folgen haben.

Denn die Versorgung mit Notunterkünften, mit Medizin, mit Nahrungsmitteln muss erst einmal finanziert werden. Im Sudan steht deshalb für mindestens 500.000 Menschen der Zugang zu Trinkwasser und medizinischer Versorgung auf der Kippe. Im Südsudan musste der UNHCR Schutzzonen für Frauen und Mädchen verlassen, weil er das Personal nicht mehr bezahlen kann. In Syrien muss ein Drittel der Beschäftigten entlassen werden.

Ausgerechnet Syrien – wo man doch möchte, dass die Menschen zurückkehren. Ist diese Politik nicht wahnsinnig kurzsichtig?

Filippo Grandi, der UN-Flüchtlingskommissar, hat im Sicherheitsrat sehr deutlich gemacht: Hilfe bedeutet auch Stabilität. Wir untergraben also letztlich auch unsere eigene Stabilität, wenn wir aufhören, die nötigen Mittel bereitzustellen.

Fürchten Sie eine ähnliche Entwicklung auch in Deutschland?

Deutschland war immer ein sehr verlässlicher Partner des UNHCR. Ich vertraue darauf, dass das so bleibt. Neben dem humanitären Aspekt gibt es schließlich auch noch den wirtschaftlichen Aspekt: Wirtschaftsinstitute bestätigen unisono: Unsere Volkswirtschaft funktioniert nur, wenn jedes Jahr 400.000 Menschen in unser Land einwandern.

Gibt es, allen Krisen zum Trotz, etwas, das Ihnen Hoffnung macht?

Ja, das gibt es. In Kamerun gibt es ein Camp, in dem rund 70.000 Menschen aus Nigeria leben. Die UN-Flüchtlingshilfe hat dort ein Wiederaufforstungsprojekt gestartet. Mit 400.000 Setzlingen ist es innerhalb von fünf Jahren gelungen, die Wüste zurückzudrängen und ein grünes Band aufzubauen. Klimakatastrophen führen immer wieder zu kleineren Ernten, daraus erwachsen dann politische Auseinandersetzungen, was die Menschen wiederum zur Flucht zwingt. Hoffnung macht mir aber auch vieles, was in Deutschland geschieht. Es ist großartig, wie viele Menschen hier aufgenommen wurden.

Vor 10 Jahren, im August 2015, sagte Angela Merkel ihren berühmten Satz „Wir schaffen das“. Haben wir es geschafft?

Es läuft zumindest sehr viel besser, als es die öffentliche Debatte vermittelt. Leider gibt es Menschen und Parteien, die gerne mit der Angst operieren und dafür Sündenböcke brauchen. Aber es gibt diese Willkommenskultur noch, das sehe ich an den vielen Initiativen, die in Deutschland auch von uns unterstützt werden. Und alle, die sich dort engagieren, können Leben verändern. Ziel muss es ja sein, dass die Menschen ihr Leben selbst in die Hand nehmen.