Kürzlich im Berliner Problembezirk Neukölln. Ein junger Mann belästigt eine Passantin, die Frau ruft um Hilfe. Polizeibeamte eilen hinzu und ringen den Angreifer zu Boden. Sofort rottet sich eine gut 100 Mann starke Menge zusammen und fordert lautstark die Freilassung des Störenfrieds. Glasflaschen fliegen gegen das Polizeiauto. Der Mob zerstreut sich erst, als die Beamten den Rückzug antreten.

Es sind Vorfälle wie diese, die immer mehr Bundesbürger am Rechtsstaat zweifeln lassen. Nicht nur aus den Migrantenvierteln unserer Großstädte zieht sich der Staat zurück und leistet nicht mehr das, was seine Bürger von ihm erwarten. Laut einer Forsa-Erhebung für den Deutschen Beamtenbund traut nur noch gut jeder Vierte dem Staat zu, seine Aufgaben zu erfüllen. 69 Prozent halten ihn für überfordert – eine bedenkliche Entwicklung in einer Zeit, in der eine Partei wie die AfD die Stimmen Unzufriedener einsammelt.

Verspätung beim der Bahn, Warten vor dem Bäcker

Beispiele aus dem Alltag kennt inzwischen fast jeder Deutsche, auch wenn die Missstände nicht immer so dramatisch sind wie in Neukölln. In den Flaniermeilen vieler Innenstädte wird Abend für Abend gefeiert und gelärmt, als gäbe es keinerlei Regeln für ein zivilisiertes Zusammenleben. Züge trudeln mit Rekordverspätung in den Bahnhof ein, sofern sie überhaupt ankommen.

Vor Bäckereien und Apotheken bilden sich Warteschlangen, weil hinter den Theken Fachkräfte fehlen. An den Grundschulen verzweifeln Deutschlehrer, weil in den Klassenzimmern immer weniger Muttersprachler sitzen. Rettungskräfte, Polizeibeamte und Feuerwehrleute werden während des Einsatzes beschimpft, bespuckt und bedroht.

Die Problemliste des Staates ist lang und wird immer länger.

Gleichzeitig werden die Ansprüche der Bürger immer höher

Kontrollverlust? Staatsversagen? Dass der Staat in einigen Bereichen überfordert wirkt, lässt sich nicht bestreiten. Aber genauso oft sind es die Bürger, die den Staat überfordern: Die Ansprüche an das Gemeinwesen werden immer höher. Der Staat kann jedoch nur verteilen, was seine Bürger vorher erwirtschaftet haben. Das beginnt mit Bürgergeld und Kindergrundsicherung. Wenn Hilfsempfänger durch staatliche Transferleistungen mehr Geld in der Tasche haben als durch eigener Hände Arbeit, stimmt etwas nicht an der Sozialpolitik.

Nicht nur dort: Auf allen Etagen der Gesellschaft hat sich eine Anspruchshaltung entwickelt, die jedes solide Wirtschaften untergräbt. Vom Staat Geld zu fordern, ist in einer Zeit von Corona-Krise, Ukrainekrieg und Inflation zum Volkssport geworden. Die Politik hat lange dazu genickt, statt zu bremsen. Im vergangenen Jahr wurde Autofahrern ein großzügiger Tankrabatt spendiert – aber wozu? Ähnlich die Energiepauschale: Auch wer keine Not leidet, freute sich über 300 Euro Staatsknete, verteilt mit der Gießkanne.

Ein Staat wie ein fürsorglicher Vater

Es mag richtig sein, dass der Staat Krisen abfedert, um die Wirtschaft am Laufen zu halten. Nicht richtig ist es aber, jeden einzelnen Bürger in der Illusion zu wiegen, der Staat sei in jeder Lebenslage für sein Wohlergehen zuständig und wie ein fürsorglicher Vater stets an seiner Seite – so wie es Bundeskanzler Olaf Scholz mit seinem dem Fußball entliehenen Solidaritätsversprechen „You‘ll never walk alone“ angedeutet hat. Der Staat kann dafür sorgen, dass es gut gepflasterte Wege zu Sicherheit und Wohlstand gibt. Gehen müssen die Bürgern den Weg schon selbst.

An Alarmsignalen fehlt es nicht

„Fragt nicht, was euer Land für euch tun kann – fragt, was ihr für euer Land tun könnt“, appellierte John F. Kennedy 1961 in seiner ersten Rede als US-Präsident an seine Landsleute. Der Satz fruchtet heute nicht mehr und bleibt in einem demokratischen Gemeinwesen trotzdem richtig. Wer nicht zu den wirklich Schwachen und Hilfsbedürftigen zählt, sollte von der Gemeinschaft nicht mehr erwarten als er selbst zu geben bereit ist.

Andernfalls beginnt der Staat, über seine Verhältnisse zu leben – und büßt am Ende seine Handlungsfähigkeit ein. An Alarmsignalen fehlt es nicht, beispielsweise wenn Polizeibeamte auf offener Straße vor einer aggressiven Übermacht kapitulieren.

Was sind die eigentlichen Kernaufgaben?

Am besten schützt sich ein Staatswesen vor solchen Stresssymptomen, indem es sich auf seine Kernaufgaben besinnt. Sie heißen: Innere und äußere Sicherheit, eine funktionierende Infrastruktur und Chancengleichheit, damit die Bürger ihr Leben so weit wie möglich in die eigene Hand nehmen können.

Diese Balance immer wieder neu auszudiskutieren, ist kein Zeichen von Schwäche, sondern Daueraufgabe in einer demokratisch verfassten Gesellschaft. Das ist mühsam, manchmal auch nervend und erschöpfend, aber kein Anlass, einen Staat wie diesen zu diskreditieren. Die Demokratie sollte sich nicht schlechtreden lassen.

Mit diesem Beitrag verabschiedet sich der Verfasser in den Ruhestand. Er dankt den Leserinnen und Lesern des SÜDKURIER für Interesse, Zuspruch und Einwände.