Frau Hayali, Sie kommen aus einer Familie von Medizinern. Welche Diagnose würden Sie der Verfassung unserer Gesellschaft ausstellen, würden Sie sie krankschreiben?
Das ist mir zu schwarz-weiß. In welchem Bereich denn?
Es geht um das gesellschaftliche Klima, die Art und Weise, wie wir miteinander umgehen.
Ich würde auf jeden Fall attestieren, dass wir ‚ne ordentliche Störung haben.
Ist die schon chronisch oder nur akut?
Wenn sie chronisch wäre, wäre ich schon ausgewandert. Das hieße ja, keiner könnte mehr etwas daran verändern. Ich bin aber der Überzeugung, dass wir das sehr wohl noch drehen, heilen, verbessern können. Ein Anfang wäre, wenn sich jeder erst einmal an die eigene Nase fassen und nicht reflexhaft mit dem Finger auf andere zeigen würde.
Viele Menschen beklagen, dass der Umgangston verroht, die sogenannten sozialen Medien befördern das. Was außer Appellen können wir eigentlich tun?
Bildung, Bildung, Bildung, Herzensbildung. Ich glaube, dass man sich den einfachen Satz „Behandle jeden so, wie du auch selbst behandelt werden möchtest“ wirklich mal zu Herzen nehmen sollte. Dann wäre schon viel gewonnen.
Wir leben aber im Moment in einer Ich-Ich-Ich-Ich-Gesellschaft, in der jeder Recht haben möchte und Widerspruch zum Affront wird. Es mag eine Art verlorene Generation geben, bei der, wenn man im medizinischen Bild bleiben möchte, der Keim des Zweifels, des Meckerns, des Alles-schlecht-Redens, des Freund-Feind-Schemas aufgegangen ist.
Aber wenn wir mit Kindern und Jugendlichen Medienkompetenz, Kritikfähigkeit, Streitkultur, Zusammenhalt und auch ein Bewusstsein für Rassismus und Diskriminierung üben, dann glaube ich schon, dass diese Gesellschaft wieder zueinander finden kann.
Sie sind jemand, der andere ermutigt, sich dagegen zu stellen. Welches Instrument ist da aus Ihrer eigenen Erfahrung heraus erfolgreich?
Ermutigen ja, überreden nein. Das ist eine Entscheidung, die man – und zwar immer wieder – durchdenken sollte, denn der Wind, der Hass, die Drohungen, die man sich einfängt, machen etwas mit einem – und auch dem eigenen Umfeld.
Ich bin umso dankbarer für jeden, der sich für die Gesellschaft, die eine Gemeinschaft der Vielfalt ist, einsetzt – ob für Wohnungslose, für Geflüchtete, für Kinder in Armut, für Tiere, egal. Für mich ist Teil der Gesellschaft zu sein, nicht nur zu nehmen, sondern auch was zurückzugeben.
Meine Stammkassiererin im Supermarkt hat mal zu mir gesagt: „Es ist respektlos, dass du immer an der Kasse stehst und auf dein Telefon starrst.“ Dieser Rüffel war mir eine Lehre. Es sind halt auch die kleinen Dinge, die Menschen zermürben oder abwerten. Das zu ändern kostet gar nichts.
Es wäre eh gut, wenn wir wieder mehr ins Gespräch kommen – und das gerne mit Menschen, die man nicht kennt. Die anders denken, anders aussehen, anders tanzen, anders beten, anders leben, anders feiern.
Wir sind nun mal unterschiedlich. Gott sei Dank – oder wem auch immer. Stellen Sie sich vor, alle wären Borussia Mönchengladbach-Fans, worüber sollen wir dann streiten? Bester Verein der Welt – ist klar. Und dann?
Als Hannoveraner muss ich ja kurz fragen: Wie ging das Pokalendspiel 1992 aus?
Ja, das lief nicht ganz so gut. Im Fußball gibt es den Satz: In der Farbe getrennt, in der Sache vereint. Das heißt, den Mehrwert an Vielfalt anzuerkennen, zu sagen, dass es was Tolles ist, dass jeder von uns anders ist.
Was treibt Sie an? Hat dieses Perpetuum mobile irgendwann angefangen, ist das in Ihrer Familie angelegt?
Meine Schwester ist ehrenamtlich sehr engagiert. Mein Papa war Arzt, da ist anderen Menschen zu helfen keine Kür, sondern gefühlte, innere Verpflichtung. Ich finde, die Haltung, die ich habe, ist nichts Besonderes.
Sollte nicht jeder klardenkende Mensch gegen Menschenfeinde sein, gegen Rassismus, Diskriminierung, Islamfeindlichkeit, Queerfeindlichkeit, Antisemitismus, Islamismus, gegen all diese Ismen. Das ist für mich das kleine Einmaleins der früheren Messdienerin, ergänzt durch das Grundgesetz. Mein Antrieb hat sicher auch etwas mit der eigenen Rassismuserfahrung zu tun, die ich insbesondere seit meiner Arbeit beim ZDF zu spüren bekomme.
Beim ZDF ging es los?
Ja. Und der, der es gewusst hatte, war Claus Kleber. Er meinte, wenn du hier anfängst, zieh dich warm an, es wird eine Welle von Hass auf dich zukommen – der ausländische Name reicht. Ich habe damals gedacht, was redet der Mann?
Aber er hatte Recht, mit der großen Öffentlichkeit gingen die Hass-Attacken los. Irgendwann muss man sich überlegen, wie man damit umgeht. Gehe ich ins innere Exil, halte meine Klappe und lass mich kleinmachen? Oder versuche mir einen Panzer zuzulegen und Strategien anzueignen, wie ich damit umgehe?
Ich habe mich für Variante zwei entschieden, denn es geht ja nicht nur um mich. In meiner Heimat Deutschland gibt es leider eine Menge Menschen, die täglich ausgrenzt und diskriminiert werden. Das ist ein Zustand, den ich nicht akzeptieren möchte. Daher kommt nichts zu tun, insbesondere auch aus meiner mittlerweile privilegierten Situation heraus, für mich nicht in Frage.
Ist das auch manchmal ein Konflikt, in dem Sie da sind – als Nachrichtenmoderatorin, die eigentlich neutral sein soll, und gleichzeitig als öffentliche Person, die Haltung bezieht?
Warum soll ich denn bitte zu Rassismus neutral sein? Wo steht das? Beim Mindestlohn bin ich neutral. Bei der Rente bin ich neutral. Ich bin beim Infrastrukturpaket neutral und – also bei Themen, wo man eine Meinung haben kann. Aber bei den Themen, über die wir gerade sprechen: Warum soll ich da neutral sein? Das hat doch nichts mit Meinung zu tun.
Sie bezeichnen sich als Haltungsjournalistin. Was meinen Sie damit?
Diese Zuschreibung wurde mir insbesondere von Menschen, die mich gerne „in meine Heimat“ schicken wollen, fremdbestimmt übergestülpt. Ich habe die dann übernommen, um die Deutungshoheit über den Begriff zu erlangen.
Zu den genannten Themen habe ich eine Haltung. Ich sehe darin keinen Konflikt. Ansonsten bin ich unparteiisch und unparteilich. Fällt mir leicht, denn ich habe mit keiner was am Hut. Mir geht es um die Sache, nicht um Ideologie.
Was ist denn die richtige Haltung? Wer legt das fest?
Das Grundgesetz, der Verstand und in meinem Falle der Rundfunkstaatsvertrag. Es mag ab und an ein schmaler Grat sein. Aber in den Themenbereichen, die ich gerade genannt habe, habe ich eine Art Verpflichtung, das nicht stillschweigend hinzunehmen. Nicht nur als Journalistin, sondern als Bürgerin dieses Landes.
Für Ihr Wirken und Ihre Standfestigkeit werden Sie immer wieder ausgezeichnet, gerade mit der Georg-Elser-Auszeichnung in Konstanz. Macht Sie das eher stolz oder traurig, denn anerkannt werden ja eigentlich Selbstverständlichkeiten wie der Einsatz für demokratische Werte und Zivilcourage.
Ich finde es ehrlich gesagt etwas „befremdlich“. Das soll nicht despektierlich klingen. Ich möchte wirklich nicht, dass das so verstanden wird. Befremdlich deshalb, weil das, was ich mache, für mich eine absolute Selbstverständlichkeit ist. Ich finde daran nichts auszeichnungswürdig.
Dann müsste es ja auch nicht ausgezeichnet werden, wenn es so eine Selbstverständlichkeit wäre.
Ja, das ist es offensichtlich nicht in diesem Land, sonst gäbe es all diese Preise nicht. Aber ich bin dankbar, dass gesehen wird, was ich tue. Und natürlich tut Anerkennung auch mir gut... Aber noch mal: es ist einfach Teil meines Seins.
Sie stürzen sich ja auch in Gesprächen mit Corona-Leugnern und mit Neonazis. Haben Sie davon eigentlich schon mal einen überzeugt?
Ich bin Journalistin, ich muss und will niemanden überzeugen. Ich stelle Fragen, mich interessieren die Antworten. Um Fakten, Argumente, Kontexte, Mehrdeutigkeiten, um Erfahrungen.
Es geht mir also bei solchen Gesprächen eher ums Verstehen wollen, ohne Verständnis zu haben. Warum denkt jemand, wie er denkt? Ich gehe in diese Gespräche gar nicht erst mit dem Ansatz, jemanden zu bekehren. Das ist nicht mein Job.
Bereitet Ihnen, ein Interview mit Alice Weidel zu führen, Schmerzen?
„Lassen Sie mich zunächst einmal sagen“... Diese Aussage haben leider alle Parteisprecher drauf, also Floskeln, Ablenkung, Drumherum-Gerede. Bei der AfD kommt unter anderem erschwerend dazu, dass sie eine Art Kunstform entwickelt hat, in Interviews wirklich auf gar nichts zu antworten oder eigene Fakten verkaufen zu wollen.
Herausfordernd, weil nicht alles komplett falsch, aber halt auch nicht wirklich richtig ist. Da kommt man als Fragesteller, der ja auch an realistischen und nicht nationalistischen Lösungen interessiert ist, irgendwann nicht mehr mit dem geraderücken hinterher.
Gibt es eine realistische Chance, die AfD auf zehn Prozent zurück zu argumentieren?
Fragen Sie mich als Journalistin? It‘s not my business! (Nicht mein Geschäft, Anm. d. Red.) Ich bin allerdings froh, dass wir einen demokratischen Korridor haben, der von links bis rechts geht – rechts ist für mich konservativ.
Ich bin dankbar, dass wir unterschiedliche Parteien mit unterschiedliche Ideen und unterschiedlichen Lösungen haben. Gerade als jemand, deren Eltern aus einer Diktatur kommen, weiß ich das zu schätzen und finde es wirklich merkwürdig bis abstoßend, dass manche Deutschland als Diktatur bezeichnen.
Und das zumeist nur, weil ihnen der Weg nicht gefällt, oder sie nicht bekommen, was sie wollen. Ich würde mir allerdings eine bessere Kommunikation, Streit um die Sache und nicht um Egos oder Posten wünschen. Denn das fördert massiv die Parteienverdrossenheit. Und eventuell sogar die Politikgenervtheit...
Jetzt haben wir viel über das geredet, was schief läuft. Warum sollten wir trotzdem optimistisch bleiben?
Ich weiß, dass der Vergleich mit anderen Ländern wenig hilft. Erst recht, wenn man nicht weiß, wie man seine Miete bezahlen bzw. eine Wohnung finden soll. Wenn man gekündigt wurde. Wenn ein Elternteil zum Pflegefall geworden ist und man sich eine würdevolle Pflege nicht leisten kann. Wenn man lange und hart gearbeitet hat und die Rente trotzdem nicht reicht.
Und dennoch, bei allen Baustellen, die ich sehe und die auch mich wütend machen, wir leben in einem tollen Land. Und dass uns Fortschritt und ein gutes Miteinander gelingt, liegt an jedem von uns. An jedem, der in diesem Land lebt. Ob mit oder ohne Migrationsvordergrund – denn es ist unser aller Heimat.